Ich bin 68 Jahre alt und habe seit 51 Jahren Diabetes mellitus.
Im Sommer 1966 stellte unser Hausarzt bei mir einen Diabetes mellitus fest. Ich war damals 17 Jahre, hatte das Gymnasium gerade abgeschlossen und machte ein Haushaltsjahr im elterlichen Haus, weil die Eltern nach einem schweren Autounfall Hilfe brauchten. Wir lebten in einem kleinen Dorf in Oberschwaben. Eine ca. eineinhalbjährige schleichende Krankheitszeit ging dem voraus. Ich hatte unstillbaren Durst (ich dachte immer, dass ich mich beherrschen muss und sagte niemandem etwas davon), ich hatte Hautjucken, Haarausfall, Impedigo im Gesicht, Ausbleiben der Mensis und enorme Konzentrationsstörungen. Meinem Vater habe ich mein Leben zu verdanken, weil er den Hausarzt gebeten hatte, mich doch noch mal zu untersuchen. Ich hatte an Gewicht verloren und wog nur noch 42 kg bei einer Größe von 1,56 cm.
Im Krankenhaus bekam ich dann Insulin und portionierte Kost. Ich hatte Hunger wie nie in meinem Leben und verspeiste selbst die Orangenschalen. Trotzdem nahm ich in 2 Wochen 12 kg zu. Nichts passte mehr und ich fühlte mich unwohl. Dann das Spritzen: Ich hatte Angst davor, die Nadeln aus Edelstahl waren dick und taten weh. Beim Erlernen der Technik sagte Schwester Irene: „Das hast du nun und das behältst du auch!“ Manchmal wollte ich nicht essen, weil ich ja vorher spritzen musste. Als ich nach 14 Tagen entlassen wurde, sagte der Chefarzt zu mir: „Du bist dem Tod gerade nochmal von der Schippe gehüpft.“
Zuhause erklärte mir meine Mutter die Broteinheiten und das Gleichgewicht zwischen Essensaufnahme und Blutzuckeranstieg. Eine Schulung im Krankenhaus gab es nicht. Ich bekam lediglich Broschüren mit nach Hause. Doch von nun an war ich gebrandmarkt: die Zucker Elisabeth.
Nach meiner ersten Unterzuckerung nach einem längeren Waldspaziergang wollte ich nicht mehr leben. Meine Schwester munterte mich auf, betete mit mir und gab mir neue Hoffnung. Ich hatte nicht gewusst, dass dies eine Unterzuckerung war. Niemand hatte mich aufgeklärt. Das lernte ich erst später.
Acht Wochen nachdem ich Insulin hatte (es war Depot Insulin von Hoechst), sah ich plötzlich schlechter. Der Augenarzt stellte einen angeborenen grauen Star fest. Doch es waren typische, diabetische Linsentrübungen, die nach 5 Jahren in der Augenklinik der Universität Tübingen operiert wurden. Mein Diabetes war zu lange unerkannt gewesen.
Mein Traumberuf war Krankenschwester und nun war nicht sicher, welche Schule mich aufnahm. Doch es herrschte großer Mangel in diesem Beruf und so konnte ich an einer Schule in Reutlingen anfangen. Ich hatte plötzlich totale Freude am Lernen und schloss nach drei Jahren die Ausbildung mit Erfolg ab. Das Examen musste ich mit einer Lupe schreiben, da ich durch den grauen Star weniger als 20 Prozent Sehkraft hatte – bei Aufregung noch weniger. Erst ein Jahr später, 1971, wurde ich an den Augen operiert. Es war eine schwierige Operation, da ich so jung war und die Ärzte die Linsen nicht einfach so herausnehmen konnten. Aber anschließend stieg die Sehkraft rasch auf 100 Prozent. Ich trug zunächst eine Starbrille und später Kontaktlinsen. Ich war glücklich wieder alles sehen zu können, besonders die Farben.
Die Spritztechnik änderte sich in den Jahren rasch. Hatte ich zu Anfang noch eine Glasspritze, die in Alkohol aufbewahrt und wöchentlich ausgekocht wurde, bekam ich bald Einmalspritzen und Kanülen, die viel feiner waren.
Nachdem ich gut sehen konnte, mein Examen in der Tasche hatte, wollte ich noch einen Beruf erlernen. Ich entschied mich für Ergotherapie in Berlin. Bezahlt wurde es als Umschulung von der BfA. Doch kaum hatte ich die Ausbildung angefangen, da sah ich wieder schlecht. Diesmal hatte ich eine Netzhautblutung. Die Therapie war konservativ, ich schluckte 28 Pillen täglich, doch es gab keine Aussicht auf Heilung. Da beteten Freunde mit mir und nach drei Monaten war die Netzhautentzündung ausgeheilt. Bis heute habe ich eine 100%ige Sehkraft auf beiden Augen. Nun konnte ich mein Examen beenden und arbeitete mit Freude 10 Jahre lang als Ergotherapeutin.
Doch ein paar Jahre später bemerkte ich immer deutlicher, dass die Einstichstellen des Insulins entzündet waren. Zunächst dachte ich, dass dies Spritzfehler sind und schwieg. Inzwischen war ich beruflich nach Düsseldorf gekommen und wurde am Diabetesforschungsinstitut (DFI) behandelt. Meine Blutzuckerwerte waren enorm unregelmäßig mit vielen nächtlichen Tiefwerten, von denen ich nichts ahnte. Ich lernte die Blutzuckerselbstkontrolle, las die Werte jedoch von einer Farbskala ab und meine gemessenen Werte wurden dann mit Laborwerten abgeglichen. Nach wochenlangen Untersuchungen stellten die Ärzte eine Unverträglichkeit gegenüber allen Beimischungen im Insulin fest, wie sie in Depot Insulinen zu finden sind. Also kam nur eine Insulinpumpe mit kurzwirkendem Insulin in Frage. Diese Technik war brandneu und nur wenige Menschen trugen sie. Ich bekam eine Pumpe von Siemens. Das Insulin wurde manuell in ein Reservoir gefüllt. Die abgerufenen Einheiten musste ich notieren, weil die Pumpe diese nicht zählte. Nur so wusste ich, wie viele Einheiten noch in der Pumpe waren.
Mit der Insulinpumpe fing ein neues Lebensgefühl an. Der HcA1c-Wert sank von über 15 auf unter 7. Ich fühlte mich frisch und tatkräftig und voller Energie. Es war inzwischen Januar 1982. In diesem Jahr lernte ich meinen Mann kennen und wir wollten heiraten. Hatten 16 Jahre zuvor die Ärzte mir noch von Kindern abgeraten, so machten uns jetzt die Ärzte am DFI Mut, Kinder zu bekommen. Und auch mein Mann ermutigte mich. Eineinhalb Jahre nach der Hochzeit, ich war inzwischen 35 Jahre, kam unser erstes Kind zur Welt. In den nächsten 5 Jahren folgten noch drei weitere. Alle vier Kinder – zwei Jungen und zwei Mädchen – sind mit Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Ich war inzwischen 40 Jahre alt und bei allem Glück ziemlich geschafft.
Die Insulinpumpen wurden immer komfortabler, ich brauchte nur noch eine Patrone einzulegen und auch die Einheiten wurden mitgezählt. Seit 2009 trage ich eine Pumpe mit Beigerät, das die Bolusabgabe vorschlägt. Seit einigen Monaten habe ich ein Blutzuckerlesegerät mit Sensor, sodass ich nicht mehr stechen muss und der Blutzucker- bzw. Gewebezuckerverlauf ständig angezeigt wird.
Vor acht Jahren überstand ich eine Brustkrebserkrankung mit anschließender Chemotherapie und Radiologie und bin immer noch tatkräftig. Außer der Augenerkrankung in der Anfangszeit habe ich keine Komplikationen, weil ich eher niedrige Blutzuckerwerte habe. Ich lerne Gedichte auswendig und spiele Klavier, um mein Gehirn zu trainieren. Wir haben vier Enkelkinder die mich auf Trab halten, ein offenes Haus mit vielen Gästen, arbeite viel in unserem großen Garten mit Gemüse und Früchten und erledige alle Einkäufe mit dem Fahrrad.
Ich freue mich am Leben und möchte jedem Mut machen nicht aufzugeben und in Verantwortung seiner Gesundheit gegenüber sein Leben zu gestalten.
Veröffentlicht: 2017