Am 9.8.1960 schellte die Polizei bei meinen Eltern, um ihnen mitzuteilen, dass ich nicht mehr im Ferienlager, sondern im Krankenhaus sei. Es war der Geburtstag meiner Tante, deshalb habe ich dieses Datum nie vergessen.
Diese Erkrankung war für meine Umgebung, einschließlich der behandelnden Kinderärztin, absolut exotisch. Eine vernünftige Schulung gab es weder für meine Eltern noch für mich. Wir hatten einen Plan der erlaubten Lebensmittel und eine Austauschtabelle. Zu Beginn der Erkrankung kauften meine Eltern sogar Lebensmittel in der Apotheke, gaben das wegen der hohen Kosten und der nichtvorhandenen Wirkung bald wieder auf. Eine Möglichkeit, den BZ selber zu messen, gab es nicht. Ich bin im „Blindflug“ aufgewachsen. Die BZ-Kontrollen im Krankenhaus waren mit viel Aufwand und Aufregung verbunden. Entsprechend waren dann auch die Ergebnisse! Behandelt wurde ich mit Mischinsulin zweimal täglich. Das hatte natürlich einen sehr strengen Essensplan zur Folge.
Was mich wirklich wütend macht, ist, dass damals verlangt wurde, dann man mit dieser unflexiblen Behandlung erstklassige Werte lieferte. Heute weiß ich, dass man Kinder so überhaupt nicht behandeln kann. Ich könnte heute noch schreien, wenn ich bedenke, was man uns damals zugemutet hat. Meine Mutter ist oft weinend aus der Arztpraxis gelaufen, wenn meine Werte mal wieder nicht den Vorstellungen der Ärztin entsprachen. Dieses Gefühl, „schuldig“ zu sein, habe ich nie verloren. Die Frage, ob man „gesündigt“ hatte, kennt wohl jeder Diabetiker meines Alters. Ich habe fast alle Ferien im Krankenhaus verbracht, „zum Einstellen“. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass die langen Krankenhausaufenthalte wohl eher ein Zeichen für Hilflosigkeit waren, an einen Nutzen kann ich mich nicht erinnern. Die Realschule musste ich wegen zu häufiger Krankenhausaufenthalte verlassen. Ich habe dennoch eine abgeschlossene Berufsausbildung, ich bin Buchhändlerin. Zu meinem Glück zähle ich, dass ich niemals Probleme wegen des Diabetes im Berufsleben hatte.
Mein erstes BZ-Messgerät bekam ich ca. 1980. Es maß noch 2 Minuten und war trotzdem eine Offenbarung. Ich habe mich im Laufe meines Erwachsenenlebens dann immer mehr bemüht, mehr über den DM zu lernen. Ich wechselte einige Male den Arzt, wurde auf die ICT umgestellt und lernte endlich, dass man wie ein ganz normaler Mensch leben kann. Mein damaliger Arzt hat mich immer dabei unterstützt.
1976 lernte ich meinen Mann kennen, für den DM auch etwas Neues war. Er hat es sehr pragmatisch genommen. Heute ist er mein Hypo-Wächter, er merkt sie viel eher als ich selbst. Auf ärztlichen Rat hin haben wir auf Kinder verzichtet. Aus heutiger Sicht denke ich, dass das ein Fehler war.
Ich hatte 8 Jahre lang eine Insulinpumpe. Auf eine Fortsetzung der Pumpen-Therapie habe ich verzichtet. Grund dafür war, daß in meine Pumpenzeit eine schwere Acidose fällt. Außerdem war ich nicht willens, der BEK Daten zur Verfügung zu stellen, die nur für meine Ärztin bestimmt sind. Ich lebe mit der ICT und bin zufrieden. Im Laufe der Jahre war ich die Erste, die bei den Familienangehörigen Diabetes Typ-II feststellte. Heute diskutieren mein Mann und ich unsere Werte und die nötigen Insulingaben. Der Diabetes gehört ganz selbstverständlich zu unserem Leben und wir lassen uns nicht einschränken.
Abgefunden habe ich mich allerdings nicht damit. Warum unschuldige Kinder mit solch einer Krankheit gestraft werden, bleibt mir ein Rätsel. Und es ärgert mich immer noch maßlos, wenn in Publikationen die erwachsenen Typ-I-Diabetiker mal wieder vergessen werden. Wir sind einfach nicht vorhanden. Manchmal, in dunklen Momenten, denke ich, unser Erwachsenwerden war nur ein Versehen. Gewollt war es nicht. Ich wünschte, es würde mehr und effektiver geforscht. Wenn es die Möglichkeit der Heilung gäbe, dann wäre das doch ein toller Anreiz!
Veröffentlicht: 2013