Im Januar 1935 wurde ich als viertes in eine brave Lehrersfamilie mit fünf Kindern in Bayerisch Gmain, am Fuße des kürzlich wegen geheimnisvoller Höhlen berühmt gewordenen Untersberg, geboren. Meine glückliche Kindheit im nahen Bad Reichenhall war durch den bald beginnenden Zweiten Weltkrieg anfangs nur wenig berührt. Im Jahr 1941, ziemlich genau zu meinem Geburtstag, traten die Symptome der damals „juveniler Diabetes mellitus“ genannten und bald auch für den Sechsjährigen als nicht mehr veränderbar erkannten Krankheit auf. Unser guter Herr Doktor hatte sie gleich erkannt.
Der Fortgang des Krieges zwang meinem unwichtigen Einzelschicksal doch eine Bedeutung auf. Im letzten Kriegsjahr 1944/45 wurde die Zuteilung des lebensnotwendigen Protamin-Zink-lnsulins um ein Drittel gekürzt. Nach einem für meine kleine Heimatstadt verlustreichen Fliegerangriff, knapp vor dem Kriegsende mit 226 Todesopfern, war für den Zehnjährigen die Todesgefahr nicht gebannt. Mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs war die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Medikamenten ebenso zusammengebrochen. Die rastlosen Bemühungen meiner guten Eltern und die Hilfsbereitschaft der wenigen, die helfen konnten, ließ uns die Monate bis zur Wiederherstellung einer geordneten Versorgung überstehen. In den letzten Kriegsjahren waren in den Sanatorien und anderen geeigneten Gebäuden der deutschen Kurorte – so auch in meinem Schulhaus in Bad Reichenhall – Lazarette für die vielen verwundeten Opfer eingerichtet worden.
Nach dem vergleichsweise zivilisierten Einmarsch der amerikanischen Truppen konnten diese bis zur geordneten Auflösung im Sommer 1945 weitergeführt werden. In einem Lazarett arbeitete eine Krankenschwester, die von der Sorge meines guten Vaters um seinen kranken Buben erfahren hatte. Sie machte es möglich, meinem Vater einige Male zu informieren und beim darauffolgenden Zusammentreffen mit ihm, mir eine Ampulle des begehrten Medikaments in die Hand zu drücken. Geld floss nicht dabei; ein Schwarzmarkt bestand zu dieser Zeit noch nicht. Etwas später wurde den Bürgern des besiegten Landes wieder erlaubt, Post ins Ausland zu schicken. Ein Drogeriebesitzer bat seine Verwandten in den USA per Brief, für meinen Notfall in ihrer früheren Heimat Insulin zu besorgen. Einige Male gelang dies auch und mit Hilfssendungen an unseren guten Mitbürger kamen einige Fläschchen schließlich bis zu mir.
Nicht weit von meiner Heimatstadt in Gendorf bei Burghausen bemühten sich die Chemiker der Wacker-Werke, für bedrohte Kranke lebensnotwendige Medikamente herzustellen und diese über die Krankenhäuser der Umgebung zu verteilen. Pharmazie war nicht ihr eigentliches Fach, denn das Insulin wirkte zwar, brannte aber und rötete die Einspritzstelle. Allen verdanken wir, die wir an nicht heilbaren Krankheiten litten, sehr viel. Es war die Zeit der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse. Nach dem furchtbaren Krieg und bei meiner eigenen Betroffenheit macht mich bis heute die Erinnerung an die doch vorhandene Humanität in unserem Land zufrieden. Insulin war wieder in der Apotheke zu beziehen, nachdem der „Alliierte Kontrollrat“ als Gemeinschaftsorgan der Siegermächte beschloss, eine geordnete Medikamentenversorgung einzuführen. Offensichtliche Produktionsschwierigkeiten erlaubten in der Anfangszeit nur den Bezug der Hälfte der Verschreibung des für mich ohnehin neuen Fabrikats „Depot-Insulin Höchst“.
Der Rest bestand in unterschiedlichen Präparaten, die die “ American Diabetes Association “ für die Leidensgenossen im besiegten Land gespendet hatte. Ihre verschiedene Konzentration führte manchmal zu Irrtümern (20 Units/ccm!). Alles war zu überwinden.
Meine Behandlung mit dem zuletzt genannten Insulin, bei zwei Injektionen am Tag, lief über einige Jahre. Manchmal überraschte mich eine nächtliche Hypoglykämie, die von den Eltern, später von meiner Lebenspartnerin ohne ärztliche Hilfe gemeistert wurde. Das nach meinem Gefühl über die Jahre sich steigernde Dämmerungsphänomen (Dawnphänomen) führte 1989 zur Pumpentherapie, der ich bis heute treu blieb. Schwere Hyperglykämien erlebte ich nur zweimal, bezeichnenderweise in Krankenhäusern. Einmal war eine Fehlbehandlung durch den Arzt, das andere Mal der Schock nach einem Absturz im Gebirge, verbunden mit Verletzungen, die Ursache.
Meine Wissensneugier und der gute Rat meiner Eltern bewogen mich im Januar 1952, dem neugegründeten Deutschen Diabetikerbund beizutreten. Seine Mitgliederzeitschrift „Diabetes-Journal“ vermittelte mir die vielen Jahre seither das notwendige Wissen, um mit meiner Krankheit in der erforderlichen Behutsamkeit auszukommen. Im Jahr 1953 bestand ich in meiner Heimatstadt das Abitur und zog nach München zum Studieren. Nach zwei Semestern Bauingenieurwesen wechselte ich meinen Neigungen gemäß ins Architekturfach und schloss im Frühjahr 1961 mit der Diplomhauptprüfung ab. Die Krankheit hatte mir im Studium manchmal zugesetzt; mit ärztlicher Hilfe und nicht ganz perfekter Disziplin führte ich meine anspruchsvolle Ausbildung zu Ende.
Zu Beginn meiner Berufstätigkeit im Öffentlichen Dienst legte ich die ärztliche Fürsorge für mein Dasein in die Hände Professor Mehnerts im Schwabinger Krankenhaus und blieb mit meinen „bedingten Gesundheits-Problemen“ dort bis zum Ausscheiden dieses beeindruckenden Arztes in seinen Ruhestand. Mein eigener Berufsweg führte von der Planung einiger Universitätsbauten schließlich zur bauplanerischen Betreuung der Staatstheater und Staatlichen Museen in der Landeshauptstadt München und ergab eine für mich, und hoffentlich auch Anderen, zufriedenstellende Lebensleistung. Wenige Konflikte im Arbeitsleben stand ich mit guten Argumenten und Standfestigkeit durch. Die immerwährende Furcht, dass die Krankheit das Leben schwer beeinträchtigt, wird einem trotzdem in Erinnerung gerufen. Die Krankheit persönlich vorzuwerfen, hinterlässt Bitterkeit: lm März 1995 ging ich in den Ruhestand und widme mich seitdem bau- und kunstgeschichtlichen Themen, für die ich in meiner Ausbildung besondere Qualifikationen erlangt hatte.
Die Krankheit ließ mich zu meiner Freude mit den gefürchteten Komplikationen fast in Ruhe. Einige Mikroaneurysmen im Augenhintergrund vernarbten schon vor 50 Jahren wieder. Gefäße, Nieren und Nerven zeigen nur geringe Spuren der Stoffwechselunruhe. Der Katarakt in beiden Augen ließ sich operativ beheben und die begleitende Autoimmunkrankheit Vitiligo oder Weißfleckenkrankheit ist im Vergleich zum Diabetes ohnehin nur ein kosmetischer Schaden.
Im Januar 2014 habe ich mich entschlossen der Selbsthilfegruppe Diabetes in München, welche zur Deutschen Diabetes-Hilfe Menschen mit Diabetes gehört, beizutreten.
Für meinen etwas komplizierten Lebensweg ist seit 55 Jahren meine liebe Ehefrau Marianne die richtige Partnerin. Wir leben zufrieden. Seit zwei Jahrzehnten erinnert mich meine Wirbelsäule mit Bandscheibenvorfällen und verengten Nervenkanälen schmerzhaft ans Altwerden. Kommt das auch vom Diabetes? Natürlich nicht!
Veröffentlicht: 2014