Angefangen hat alles 1947 in Röcke (Niedersachsen). Ich war in dieser Zeit lustlos, müde und träge, habe viel getrunken und ständig Wasser gelassen. Da ich in der Schule oft auf der Bank eingeschlafen bin, wurde ich regelmäßig an die frische Luft geschickt, nur geholfen hat mir das nicht. Auch mein Körpergewicht ging bis zum Beginn meiner Lehre 1953 immer weiter zurück.
Während dieser Zeit bin ich häufig zu verschiedenen Ärzten gegangen, wurde von Kopf bis Fuß durchleuchtet, soweit das damals möglich war. Immer wieder wurde Blut abgenommen, das in eine Klinik geschickt wurde. Bis die Ergebnisse vorlagen, dauerte es immer eine ganze Woche. Meine Kopfschmerzen wurden immer stärker, nur rausgefunden hat man nichts. Schließlich wurde mir gesagt, meine Mandeln seien zerfranst, die müssten raus. Gesagt, getan. Die Wundheilung dauerte lange und es ging mir zunehmend schlechter. Wieder wurde der Kopf durchleuchtet, eine Kieferhöhlenspülung brachte keine Besserung. Als nächstes stand eine Stirnhöhlenspülung an. Natürlich hat sich auch danach nichts verändert, sodass ich erst mal keinen Arzt mehr sehen wollte.
Schließlich musste ich die häufigen Ausfallzeiten auch meinem Lehrmeister erklären, der davon nicht begeistert war. Der Obermeister wollte sogar, dass ich meine Lehre verlängere. Am 05.03.1953, kurz vor Ostern, konnte ich es nicht mehr aushalten und bin erneut zum Arzt gegangen. Ich wusste nicht, dass mein Hausarzt eine Ostervertretung hatte, war aber mit der Behandlung durch die Ärztin einverstanden. Es war eine sehr junge Ärztin, die direkt als ich rein kam, Aceton gerochen hat. Sie hat sich dann noch meinen Krankenbericht durchgelesen und einige Fragen gestellt. Am nächsten Tag sollte ich um 7 Uhr nüchtern zum Blutabnehmen kommen. Drei Tage später ging ich in der Mittagspause schnell zur Ärztin, um das Ergebnis zu besprechen. Das Ergebnis: Zuckerkrankheit – Diabetes. Ich sollte sofort am nächsten Tag um 15 Uhr ins Krankenhaus an der Bergdorfer Straße zum einstellen. Kaum war ich da, kam auch schon eine Schwester mit der ersten Spritze Altinsulin, das sie mir in den Bauch gespritzt hat. Ein Arzt kam hinzu, der mir erklärt hat: „Beim Spritzen passen Sie jetzt gut auf, das müssen Sie demnächst selber machen, da wird nicht immer jemand von uns dabei sein“. Im weiteren Gespräch dann der schockierende Satz: „Herr Deichsel, Ihr Leben wird in 10-15 Jahren zu Ende sein, wenn Sie unsere Anweisungen nicht annehmen. Wir werden Ihnen aber als Hilfe alles erklären, was wir über Diabetes wissen“. Das war für mich natürlich wie ein Schlag ins Genick.
Meine erste Mahlzeit war eine große Schüssel Blattsalat, dazu wieder ein Spritze Altinsulin. Die habe ich mir schon selber gesetzt, die Schwester war zufrieden. Auch das Essen wurde besser, es gab Brot, Kartoffeln, Fleisch, Fett und viel Salat. Ich sollte wieder zunehmen, wog ich doch bei der Aufnahme nur noch 52 kg bei 1,75 m. Am Anfang gab es sehr viel Neues auf einmal für mich, aber nach ein paar Tagen hatte ich eine Idee davon, was ich zu tun habe und langsam pendelte sich alles ein.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus und einer Ruhezeit wurde mir klar: Bewegung ist für einen Diabetiker das Wichtigste. So besuchte ich in der Freizeit eine Jugendgruppe, leitete eine Volkstanzgruppe, ging fast jedes Wochenende zum Tanzen und organisierte Gruppenreisen mit Wandern und Bergsteigen. Endlich ging es auch weiter mit der Lehre. Der Blutzucker wurde von Monat zu Monat besser, zeitweise aber auch mal schlechter. Damals wurde nur einmal im Monat Blut abgenommen und zur Untersuchung in ein Labor geschickt. Spritzen wurden ausgekocht, die Nadeln waren lang wie Stricknadeln.
Trotz zwischenzeitlicher Rückschläge wurde mein Befinden immer besser. Ich konnte wieder klarer denken und auch die Arbeit ging mir besser von der Hand. Eingestellt war ich zu der Zeit mit Schweineinsulin von Hoechst. Bald musste ich auch 3x spritzen, jeweils 1 Stunde vor dem Essen. Immer wieder wurde ich mit Unterzuckerungen in ein Krankenhaus eingeliefert, der Aufenthalt dort dauerte dann immer mehrere Wochen. Mitte der fünfziger Jahre wurde auch mal ein Versuch mit Tabletten zusätzlich gestartet, Rastinon und Nadisan, der aber nichts brachte.
1957 wurde mir die erste Kur im alten Diabeteszentrum Bad Oeynhausen bewilligt, 1962 die nächste. Bis heute sind meine Klinikaufenthalte für mich nicht mehr zählbar. Verändert hat sich mit den Jahren natürlich einiges. Seit 1998 trage ich eine Insulinpumpe, die ich mir damals selber ausgesucht habe. Ich habe dann meinen Arzt gebeten, sie mir zu verschreiben. Er hat nur gesagt: „Aber selbstverständlich Herr Deichsel, Sie wissen über Diabetes mehr als ich, wenn Sie die haben möchten, wird das richtig sein“. Die heutigen Möglichkeiten der Diabetestherapie sind für mich noch immer beeindruckend.
Besonders wichtig ist für mich bis heute der Einsatz für andere betroffene Menschen. 1982 habe ich die Schwerbehindertenvertretung auf meinem Arbeitsplatz übernommen. 1996 habe ich eine Diabetes-Selbsthilfegruppe wieder aufgebaut, deren Teilnehmer mit der Zeit alle verloren gegangen waren. Diese habe ich über zwölf Jahre geleitet und 2008 gut aufgestellt in andere gute Hände übergeben, sodass ich nun einer der aktiven Teilnehmer bin. Ich kann nach 64 Jahren erkanntem Diabetes über viele Erlebnisse, Höhen und Tiefen mit meinem Diabetes berichten. Dies ist nur ein kurzer Ausschnitt von dem, was mir am Herzen liegt. Auf dem Foto sehen Sie mich mit meiner Frau und Mutter meiner vier Kinder, ohne die ich diese Jahre wohl nicht überstanden hätte. Heute kann ich allen Betroffenen nur immer wieder sagen: „Wir sind gesund. Uns fehlt nur das Insulin!“
Veröffentlicht: 2017