Ich war zehn Jahre alt und erhielt am 11. August 1967 in der Kinderklinik Jena meine erste Spritze Altinsulin U40 Schweine/Rinder-Mischung. Glasspritze mit Kanüle Recordkonus 20 Gauge = 0,9 mm. Der Urin wurde in drei Portionen in einer „Ente“ gesammelt: Vormittag, Nachmittag und Nacht, das Volumen abgemessen und die Zuckerkonzentration gemessen. Der Blutzucker wurde im Labor ermittelt. Dazu ritzte eine Laborantin mit einem für mich unvorstellbar großen Stecher mein Ohrläppchen. Mit einem Schlauch saugte sie das Blut in ein Glasröhrchen 0,02ml (!). Jeden Tag wurde ein Diätplan geschrieben: Kohlenhydrate, Fett, Eiweiß. Erst nach 13 Wochen durfte ich die Kinderstation verlassen mit einer festen Spritzen- und Essen-Einstellung.
Ich hatte das Spritzen schnell gelernt. Die gebrauchten Kanülen und Spritzen mussten zu Hause selbst gereinigt und sterilisiert werden. Die Kanülen mit dem Finger auf Widerhaken kontrollieren und evtl. mit feinstem Sandpapier abschleifen. Dadurch wurden aber die Kanülen noch stumpfer, als sie durch den vielfachen Gebrauch ohnehin schon waren. Dann mit destilliertem Wasser durchspülen. Eingetrocknete Insulinreste wurden mit einem Draht durchgestoßen. Als Nächstes mussten die Kanülen mit Äther durchgespült werden. Die Kanülen wurden in mit Mull umwickelten Zellstoff gesteckt und kreisrund in Petrischalen gelegt. Ich durfte das Spritzzeug in der Sterilisationsabteilung der Kinderklinik abgeben.
Auch zu Hause musste jeden Tag ein Essenplan geschrieben und alles abgewogen werden. Es gab auch nur eine Möglichkeit den Stoffwechsel zu kontrollieren: Harnzuckerbestimmung mit Teststreifen (nur positiv oder negativ) oder mit Glycurator Reagenz, einer blauen Flüssigkeit. In einem Reagenzglas wurden 3 ml zum Sieden gebracht und aus einer genormten Pipette Urin getropft und immer wieder aufgekocht bis es einen Farbumschlag orange gab. In einer Tabelle stand, wieviel Tropfen wieviel Prozent Zucker im Urin entspricht. Es gab ein Problem. Wenn man das Reagenzglas still hielt, gab Glycurator keinen Hinweis, wann es kocht. Mit einem Schlag sprang alles aus dem Glas und färbte die Umgebung blau. Mein Vater organisierte ein Taschenpolarimeter, mit dem Harnzuckerbestimmung sauber ablief.
Im Herbst 1968 schickte mich meine Kinderärztin zu einer Kur nach Garz auf Rügen. Danach wurden nur noch die BE berechnet. BE war die Broteinheit und bedeutete 12 g Kohlenhydrate. Das wurde auf 10 Kohlenhydrate umgestellt. Die BE nannte sich dann Berechnungseinheit.
1971 wurde die Maßeinheit des Blutzuckers in der DDR auf die internationale Einheit (SI) umgestellt, mmol/l statt mg/dl. (1 mmol/l = 18,02 mg/dl) In den Altbundesländern erfolgt die Umstellung bis heute nicht, was durchaus gefährlich ist, da bei der Ansage des Blutzuckers oft die Maßeinheit weggelassen wird. So ist z.B. 30 durchaus möglich: Als mg/dl extrem niedrig, als mmol/l extrem hoch.
1988 wurde der Konus, die Verbindung zwischen Spritze und Kanüle, von Rekord auf Luer umgestellt. Um die vorhandenen Spritzen nicht komplett wegwerfen zu müssen, gab es Kunststoffadapter. Zur Erleichterung des Spritzens gab es eine Spritzpistole aus Kunststoff. Es wurde die Glasspritze eingelegt, der Schlitten gespannt, auf die Haut senkrecht aufgelegt und der Auslöser betätigt, der den Schlitten freigab. So richtig gut ging es nicht. Deshalb habe ich die Spritzpistole bald weggelegt.
Die Qualität der Glasspritzen wurde immer schlechter. Ich besorgte mir 2 cm³ Einmalspritzen, die allerdings pro Teilstrich 4 Insulineinheiten hatten. Die Genauigkeit des Spritzens war also eingeschränkt. Allerdings war das Insulin geringer konzentriert: U40. Unter Mühen konnte ich mir Einmalkanülen besorgen, die inzwischen in der DDR hergestellt wurden und brauchte nun kein Spritzzeug mehr zu sterilisieren. Kurz zuvor hatte ich mir noch einen kleinen Sterilisator aus der DDR-Produktion gekauft, aber nie benutzt. Wenn ich unterwegs war, zog ich vorher eine Spritze mit Insulin auf und nahm sie mit aufgesetzter Kanüle und Schutz mit – ein improvisierter Insulinpen.
1972 fuhr ich in ein Ferienlager für diabetische Kinder in Putbus auf Rügen. Dort gab es schon lange ein Internat für diabetische Kinder, das in den Ferien für die Gestaltung des Zentralen Rehabilitationsferienlagers genutzt wurde. Gerhard M. , von allen nur GM genannt, Pädagoge und selbst Typ1-Diabetiker, hatte in den 1950er Jahren begonnen, Diabetikerferienlager zu organisieren, wobei es ihm gelang, dass auch alle Helfer selbst Diabetiker waren. So war auch ich in den folgenden Jahren Helfer in Schielo und Gotha. Ein nicht erreichtes Ziel war, in jedem Bezirk der DDR ein entsprechendes Camp einzurichten. GM fragte mich 1979, ob ich im Zentralinstitut für Diabetes Karlsburg (ZID) arbeiten würde. Dort war ich erst stellvertretender, dann bis 1988 Lagerleiter. Wie die Kinder hatten auch die Helfer volles medizinisches Programm: Untersuchung, Stoffwechseleinstellung, Augenarzt. Ein Raum wurde für Urin-Selbstkontrolle genutzt.
In einem Jahr hatte sich der Chefarzt eine neue Stoffwechsel-Untersuchungsmethode ausgedacht. Spoturin: Blase entleeren, nach 15 min Blase wieder entleeren und den Harnzucker messen. Ein Blutzucker wird abgenommen und im Labor bestimmt. Durch mehrfachen Vergleich im Diagramm kann aus dem Spoturin ein Rückschluss auf den Blutzucker gemacht werden. Das Ganze funktioniert allerdings nur, wenn der Blutzucker über der Nierenschwelle ist.
Im ZID wurde viel geforscht, z.B. Wüstenratten wurden gut gefüttert, sodass sie zuckerkrank wurden. Die Ferienlagerkinder durften die diabetischen Hunde ausführen. Ein Helfer wurde mit vielen Schläuchen an den Biostator angeschlossen, einem weiten Vorläufer des heutigen AID-Systems in Schrankgröße. Mitte der 1980er Jahre testeten wir visuell auswertbare Blutzuckerteststreifen Glucosignal, die durchsichtig rot reagierten, problematisch beim Farbvergleich. Nach meinem letzten Einsatz in Karlsburg 1988 schenkten mir die Ärzte Haemo-Glucotest mit Auswertegerät. Ich teilte die Streifen, weil sie auch optisch auswertbar waren. Zu Hause wurden einige Diabetiker geschult, sich selber aller drei Stunden Blut abzunehmen, mit Pipette am Schlauch. Die Röhrchen mit Lösung wurden am nächsten Tag abgegeben und im Labor ausgewertet.
Nach dem Abitur begann ich ein Studium, das ich aber abgebrochen habe (als Diabetiker wurde ich von der Armee ausgemustert). Die geregelte Arbeitszeit als Techniker in einem wissenschaftlichen Institut war günstig für die Stoffwechselführung.
In der Kinderklinik Dresden hatte die leitende Kinderdiabetologin 1987 ein „Elternaktiv“ zusammengeholt. Selbsthilfegruppen waren nicht üblich und wohl auch nicht geduldet. Daraus gründete ich mit meiner Frau nach der Wende die „Kinder- und Jugend-Selbsthilfegruppe Dresden und Ostsachsen“, die bis 2002 bestand. 1995 leiteten wir nach einer Idee meiner Frau ein Reiterferienlager mit gesunden und 15 diabetischen Jugendlichen ohne Arzt. Die Idee wurde von der Kinderdiabetologie der Uniklinik Dresden voll unterstützt und es fanden sich in den folgenden Jahren viele Helfer. 1996 organisierten wir ein Ferienlager mit Diabetikern aus Deutschland, der Ukraine und Weißrussland. Mit dem deutschen Ukraineverein waren meine Frau und ich 1999 in Belaja Cerkow bei der Familie des Jugendlichen, den wir unterstützten. Die Diabetikerferienlager finden seitdem jährlich statt. Ich bin nicht mehr aktiv. Dankbar bin ich allen Organisatoren, Helfern, Diätassistenten, Ärzten, die die Idee unterstützen und weiterentwickeln.
Ich habe jetzt einen Blutzuckersensor und spritze mit Pens. Die Insulinpumpe mag ich nicht. Diabetische Spätschäden sind bisher nicht bekannt. Wie andere Langzeitdiabetiker, habe auch ich viele Behandlungsmethoden, Spritztechniken, Kontrollversionen kennengelernt und versucht, zusammen mit vielen Mitstreitern den diabetischen Kindern den jeweilig gültigen Behandlungsstandard zu vermitteln.
Veröffentlicht: 2022