Michael Richwien

(65 Jahre Diabetes)
Mi_83

Eine Sommergrippe im Jahr 1958 verhinderte die Teilnahme am Schulsportfest, auf das ich mich schon gefreut hatte. Statt dem 100-Meter-Sprint, für den ich schon qualifiziert war, rannte ich zu Hause ständig auf die Toilette. Das ging viele Tage so, bis meine Mutter auf einem Arztbesuch bestand. „Der Junge hat Durst und trinkt allein so viel wie die übrige Familie zusammen.“ Der erfahrene Hausarzt stellte mir noch am gleichen Tag die Diagnose auf Griechisch, weil er mich schonen wollte: diabaino – durchlaufen. Klar, was da durchläuft. Meine Mutter informierte er auf Deutsch: Zuckerkrankheit.
Zuhause wurde das zwölfbändige Lexikon gewälzt und Verwandte und Freunde befragt. Die wussten viel: Schreckliches und Widersprüchliches. Der Hausarzt bestellte mich zum „Profil“. Ich reihte mich in eine lange Menschenkette ein und war von meist älteren Menschen umgeben. Die Laborantin war wenig älter als ich, lachte mich an und verriet mir: „Am Ohrläppchen tuts nicht so weh.“ Sie sog den Blutstropfen in ein feines Röhrchen; dabei spürte ich ihren Atem. Am nächsten Tag war Arztbesprechung mit Bekanntgabe der Diätvorschriften. „Und welche Messwerte habe ich?“ Keine Auskunft: „Wir wollen dich nicht beunruhigen. Aber 30 Jahre alt wirst du schon werden“, erfuhr ich als 18-jähriger. Mit einer Einweisung in ein sehr kleines Krankenhaus ging ich nachhause. Mein Vater brachte mich ins Krankenhaus, wo ich das Krankenzimmer nicht verlassen durfte. Eine Tablette Artosin morgens und abends. Eine dünne Scheibe Brot zum Frühstück, dazu viel Wurst und Käse. Die Nüchtern-Werte von Blut- und Harnzucker waren immer sehr hoch. „Was haben wir denn da heimlich genascht?“ Ergebnislose Nachtkastenkontrollen. Elendes Gefühl. Schließlich Entlassung nach einer Woche mit Übergabe an meine Eltern.

Beim Aushändigen der neuen Packung Artosin erkundigte sich der Apotheker bei meiner Mutter nach meinem Befinden. „Er liegt schwach im Bett“ erfuhr der Apotheker und empfahl eine dringende Einweisung in das große Klinikum der Stadt als Notfall. Meine Eltern folgten der Empfehlung. Schon im Auto verging mir dann Hören und Sehen. Ich erwachte mit einer Dauerinfusion im Arm und blickte über mir in das freundliche Gesicht eines Arztes. „Das war knapp“ hörte ich. Er wich nicht von meiner Seite, auch als die Nacht schon fortgeschritten war. Es war die erste Insulinbehandlung in meinem Leben. Damals war es das Insulin aus Bauchspeicheldrüsen von Schweinen aus dem Schlachthof. Jahre später folgte die Versorgung mit dem Insulin aus Bauchspeicheldrüsen von Rindern. Schließlich gelang die Erzeugung von Humaninsulin aus dem Bioreaktor.

Schonendere Messmethoden der Höhe des Blutzuckers verhalfen mir schließlich dazu, den „Blindflug“ zu beenden. Schon vorher hatte ich mir angewöhnt, meine Selbstwahrnehmungen ganz bewusst zu machen. Ein sehr leichtes Augenflimmern konnte ich schließlich als Absinken des Blutzuckers identifizieren. Bei der Bemaßung half mir die Messung durch einen Fingerstich. Es waren stets Werte zwischen 70 und 90 mg/dl. Der Körper hat seine eigene Logik, die sehr komplex ist, neugierig macht und entdeckt werden will.
Der Diabetes vom Typ 1 ist ein großer Gleichmacher. Er „beglückt“ die Schuhverkäuferin und den Bäckermeister, die Filialleiterin und den Briefträger. Der Himmel verschont auch nicht den jungen Herrn Pfarrer am Altar, der unversehens verstummt und nicht mehr weiterweiß, bis seine Haushälterin in der ersten Bankreihe die Altarstufen hinaufeilt, ihn bei der Hand nimmt und ihn in die Sakristei führt. Dort nimmt er willig die Traubenzuckertäfelchen ein. In den Tagen nach dem Ereignis beschenkt ihn seine Gemeinde reich mit Sionon-Plätzchen, Diabetikerwein und Sauerkrautsaft. Eine große Tüte mit getrockneten Heidelbeerblättern war auch dabei. „Der Tee davon hilft garantiert!“

Nun bin ich ein Rentner von 83 Jahren und bin dankbar für alle, die mir auf dieser Lebensreise die Weichen gut gestellt haben. Die Insulinpumpe, die ich seit zwei Jahrzehnten trage, verdanke ich einem Arzt, der wie ein großer Bruder seine Patienten in großer Zahl geschult und betreut hat. Ohne meine Familie und die Freude an dem, was alles im Körper doch noch funktioniert, z.B. die Geländegängigkeit, hätte ich das nicht geschafft.

Veröffentlicht: 2023

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