Mein Name ist Margarete Becker, ich wurde im August 1935 geboren und gehöre zu den Menschen, die über 50 Jahre (genauer seit ca. 68 Jahren) Diabetes haben. An das Datum des Tages, an dem die Diagnose „Zucker“ gestellt wurde, kann ich mich leider heute nicht mehr exakt erinnern. Es war kurz nach Kriegsende und zwar entweder Ende 1945 oder Anfang 1946. Ich möchte schon gleich zu Anfang meines Berichtes betonen, dass in meiner Familie kein anderer Diabetes-Fall bekannt ist.
In der Nachkriegszeit bedeutete „Diabetes“ nur eine geringe Lebenserwartung mit deutlichen Einschränkungen, wie z. B. extrem strenger Diät, empfohlener Kinderlosigkeit usw. Die Notwendigkeit der sehr strengen Diät konnte ich als Kind nur schwer begreifen. Bereits beim ersten Krankenhausaufenthalt (direkt nach der Diagnose) wurde mir zweimal täglich Insulin gespritzt, d. h. ab 1945 bzw. 1946 erhielt ich (oder setzte mir selbst) bis heute täglich mindestens zwei Spritzen. Insulin gab es zwar aber als „Zuteilung“ in manchmal sehr unterschiedlichen Sorten und Wirkungsweisen. Die Spritzen (sogenannte „Record“- Spritzen) mussten vor jeder Anwendung durch Auskochen sterilisiert werden – eine aufwändige Angelegenheit bei z. B. Kohleöfen.
In meiner Kindheit wurde ich oft zur Einstellung ins Krankenhaus eingewiesen. Darüber hinaus musste ich alle vier Wochen ambulant zur Kontrolle das Krankenhaus aufsuchen. Bei der Gelegenheit bekam man dann vom zuständigen Arzt das notwendige Insulin ausgehändigt.
Nach der Volksschule habe ich im Jahre 1950 (also im Alter von 15 Jahren) eine Lehre als Bürogehilfin begonnen. Ich bin mir sicher, dass der Inhaber der ausbildenden Firma vor dem Hintergrund meiner vermeintlich geringen Lebenserwartung meine Einstellung als „gute Tat“ angesehen hat. Da ich keine eigene Familie hatte, konnte ich dann aber in dieser Firma über 40 Jahre bis zum (damaligen) Rentenalter von 60 Jahren als kfm. Angestellte und Finanzbuchhalterin arbeiten. In dieser langen Zeit gab es zwar Höhen und Tiefen im Krankheitsverlauf, aber mit einem gewissen Stolz und auch mit Dankbarkeit kann ich sagen, dass ich insgesamt in all den Jahren nur ca. zwei Wochen wegen der Diabeteserkrankung gefehlt habe!
Eine gute lnternistin hat mir seit ca. 1970 geholfen, dass ich meine Krankheit richtig einstufte in Bezug auf Diät, Spritzen usw. Ich selbst hatte mich in der Zeit vor 1970 immer wieder selbst belogen, indem ich vor einer ärztlichen Kontrolle eine Woche lang mehr oder weniger hungerte, um ein gutes Ergebnis zu erreichen.
Seit etwa fünf Jahren bin ich nun bei einem Diabetologen in Behandlung, aber meine HbA1c-Werte sind auch trotz bis zu fünf Spritzen pro Tag nicht besser geworden. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich von Kind an immer stark schwankende Zuckerwerte hatte.
Dankbar bin ich für ein immer noch selbstbestimmtes und selbstständiges Leben in meiner eigenen Wohnung. Testen, Spritzen und Selbsttherapie (auf der Basis von Testergebnissen) beherrsche ich noch voll und ganz. Von schweren, typischen Spätschäden wie z. B. Amputationen, Augen- oder Nierenerkrankungen blieb ich bisher verschont. Dazu trägt sicher auch meine disziplinierte Lebensweise bei, denn bei einer Größe von ca. 1,65m beträgt mein Gewicht nur ca. 55 kg.
Nicht verschweigen möchte ich aber, dass inzwischen Bluthochdruck und Neuropathie meine Lebensqualität negativ beeinträchtigen. Diese Beschwerden können allerdings auch altersbedingt sein. Natürlich gab es in meinem langen Leben mit Diabetes auch lebensbedrohliche Situationen – sowohl durch zu niedrige als auch durch zu hohe Zuckerwerte. Hier haben Menschen, die es gut mit mir meinten, gut auf mich aufgepasst. Im Übrigen haben mir Gespräche mit erfahrenen Diabetikern stets geholfen und Mut gemacht.
Veröffentlicht: 2014