Johannes Kühl

(50 Jahre Diabetes)
Johannes Kühl

Das Jahr 1968 begann eigentlich sehr schön. Im April wurde unser erstes Kind geboren. Schon im März hatten die Arbeiten für unser Einfamilienhaus begonnen und wir waren als junge kleine Familie recht glücklich. Plötzlich aber änderte sich unser Leben.

Ich weiß es noch wie heute, ich war Junglehrer und die großen Ferien waren gerade zu Ende. Der Stundenplan war noch nicht ganz fertig und so wurde der erste Schultag zu einem Ausflug umfunktioniert. Ich wollte den Schülern im nahen Sachsenwald Hügelgräber zeigen. Dabei mussten wir durch eine Schonung im Wald wandern. Die Kinder sprangen vor mir her, hüpften über Gräben, liefen durch‘s Gebüsch. Es konnte ihnen einfach nicht schnell genug gehen. Ich dagegen lief langsam durch jeden Graben und merkte, dass ich den Kindern nur sehr mühsam folgen konnte. So etwas kannte ich mit meinen knapp 30 Jahren eigentlich nicht. Ich schob es auf eine Sommergrippe, die ich in den Ferien gehabt hatte. Aber der starke Durst, der mich so quälte, dass ich keine Unterrichtsstunde ohne Trinken durchhalten konnte, ließ sich damit nicht erklären. Auch der Gewichtsverlust von fünf Kilo war mysteriös.

Mein Hausarzt wusste sofort welche Krankheit es war: Diabetes! – Er überwies mich ins Krankenhaus. Dort lernte ich in den nächsten drei Wochen, wie ich mich zu verhalten hatte und wie ich mich selbst behandeln konnte. Bald vermochte ich Mahlzeiten in BE umzurechnen und prägte mir ein, wieviel BE jeweils 100 g der entsprechenden Nahrungsmittel enthielten. Ich bekam ein eigentümlich geformtes Metallgefäß, in dem sich eine Glaskolbenspritze und mehrere Kanülen befanden. Sie schwammen in Spiritus. Die Kanülen waren etwa 5 cm lang und schienen mir mehr als 1 mm dick! Ich kaufte einen Nirosta-Stahltopf, in dem das Metallgefäß, die Kanülen und die Glaskolbenspritze einmal pro Woche ausgekocht werden sollten. Stumpf werdende Kanülen wurden geschliffen oder ausgewechselt. Heute kaum vorstellbar! Aber erstmal hieß es lernen, die Spritze zu gebrauchen! – Übrigens, damals spritzten die meisten Diabetiker in den Oberschenkelmuskel.- Zum Üben ersetzte bei uns Patienten eine Apfelsine den Oberschenkel! Nachdem ich einigermaßen eingewiesen war, wurde ich mit vielen Gerätschaften, Tabletten, Literatur und guten Ratschlägen aus dem Krankenhaus entlassen.

Und nun?

Im neuen Leben musste ich mich erst zurechtfinden. Das war nicht leicht! Vieles war plötzlich verboten (Süßigkeiten !!!), anderes blieb erlaubt (z.B. Reisen) und einiges wurde gefordert (etwa Sport). Die „Erlaubnis“ für Reisen und Sport haben wir als Familie sehr genutzt. Mit dem Wohnwagen als rollende Unterkunft wurde ziemlich ganz Europa bereist. Sport hat für uns immer zum Leben gehört. Tennis, Schwimmen und später Golf haben neben dem Joggen (jetzt nur noch Walken) viel Raum eingenommen.

Dennoch verlief mein Leben und das der Familie von nun an völlig anders. Gegessen wurde zu ganz bestimmten Zeiten! Frühstück pünktlich um 7 Uhr, Zwischenmahlzeit um 9:35 Uhr, Mittag gegessen 13:30 Uhr, Zwischenmahlzeit um 16:00 Uhr, Abendbrot zwischen 19 und 20 Uhr, und eventuell, wenn man sich unterzuckert fühlte, eine Spätmahlzeit um 22 Uhr! – Zu den Hauptmahlzeiten nahm ich Kohlenhydratmengen im Wert von 3 BE zu mir, Zwischenmahlzeiten bestanden jeweils aus 1 BE. Sich selbst immer beobachten und kontrollieren, an Kohlenhydratmengen, BE und Insulineinheiten denken, auf Hypos achten und nebenbei auch das Leben möglichst normal weiterführen, kostete damals viel Kraft!
Gespritzt wurde nur zu den drei Hauptmahlzeiten. Für die Nacht gab es später ein langsam wirkendes Insulin. Welch Glück, dass ich als Studienrat damals einen gut strukturierten Arbeitstag hatte!

Ein Tagebuch brauchten wir damals nicht zu führen, da wir Diabetiker ja keine Blutzucker-Werte notieren konnten, weil es keine Blutzucker-Teststreifen gab! Einen ganz groben Überblick konnten nur Harnzucker-Teststreifen geben. Genaue Werte wurden nur im Labor oder beim Arzt bestimmt, die aber nur den augenblicklichen Zustand oder Wert dokumentierten!

Ich glaube, selbst Blutzucker bestimmen konnte man erst ungefähr um 1980. Da gab es Teststreifen mit Reaktionsfeldern, auf die man einen Blutstropfen gab. Diese Felder verfärbten sich dann je nach Höhe des Blutzuckers unterschiedlich. Nach zwei Minuten wurde der Streifen mit Wasser abgespült und an ein Musterbild gehalten. Auf diesem suchte man ein Kästchen mit der gleichen Farbe. Die daneben stehende Zahl gab die ungefähre Höhe des Blutzuckers an. Leider bin ich leicht rot/grün-blind und so musste meine Frau immer die Werte ablesen. Aber als ich erfuhr, dass es in England ein Gerät gab, das die Teststreifen auslesen konnte, habe ich es mir sofort auf eigene Kosten und ohne Rezept aus England durch die Sanitätsfirma Schattschneider in Hamburg so ein Blutzuckermessgerät beschaffen lassen. Die Teststreifen bezahlte aber dann sogar die Krankenkasse. Trotzdem war auch das umständlich. Es dauerte mehrere Minuten bis man ein Ergebnis hatte und die Insuline waren auch noch nicht so schnell, dass man durch zu- oder nachspritzen hätte reagieren dürfen!

Aber bald danach überschlugen sich die Ereignisse geradezu. Messgeräte für Blutzucker wurden wesentlich schneller und vor allem viel genauer! Glaskolbenspritzen waren von Pens abgelöst worden. Und besonders wichtig: Neue Insuline wurden entwickelt.

Nun konnte die Behandlung des Diabetes auch geradezu revolutioniert werden. Wir gewannen immer mehr Freiheiten bei der Gestaltung unserer Ernährung! Wir durften plötzlich beinahe alles und zu jeder Zeit essen. Aber natürlich nur, wenn wir unseren Blutzucker richtig gemessen hatten und entsprechend die zu spritzende Menge an Insulin berechneten! Diese Entwicklungen erleichterten uns das Leben wesentlich und oft hörte ich: „Man merkt gar nicht, dass du Diabetes hast“. Trotzdem war ich nur „bedingt gesund“ wie der Internist bei meiner Ersteinstellung damals gesagt hatte.

Ein befreundetes Ehepaar, mit denen meine Frau und ich sieben Wochen lang eine Campingreise durch Neuseeland gemacht hatten, sagten dann wieder zu Hause auch erstaunt: „Das haben wir nicht gedacht, dass deine Krankheit soviel Vorbereitung und auch Aufwand während der Reise verlangt.“ – Das war noch während der ICT-Behandlung.

Jetzt trage ich seit fünf Jahren eine Pumpe mit einem CGM-System kombiniert. Nun habe ich keine Angst mehr vor Unterzuckerungen, brauche nicht immer neue Spritzstellen suchen, muss den Blutzucker seltener aktiv messen, habe meinen HbA1c-Wert noch weitergesenkt und, und, und …..!
Das empfinde ich als Fortschritt!

Ja so ist das! Und ich staune auch, dass ich jetzt schon 50 Jahre Diabetiker bin!

Dabei habe ich eigentlich gar nicht das Gefühl, viel für meine „bedingte Gesundheit“ getan zu haben!
Was ich aber immer empfinde ist dies: Ohne diese rasante Entwicklung der Diabetesbehandlung, an der ja viele, viele Menschen gearbeitet haben und ganz besonders ohne die Ärzte, die mich im Laufe meine Lebens behandelt haben, hätte ich sicherlich nicht 81 Jahre alt werden können. Dafür bin ich den Wissenschaftlern und meinen Ärzten immer unendlich dankbar.

Veröffentlicht: 2018

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