Herbert Ammer

(66 Jahre Diabetes)
Herbert Ammer

Mitte 1949 – im Alter von 10 ½ Jahren – brach bei mir die Zuckerkrankheit aus. Ich verlor rapide an Gewicht. Außerdem litt ich unter unlöschbarem Durst. Meine Mutter suchte unsere Hausärztin auf. Unglücklicherweise befand sich diese im Urlaub. Ihre Vertretung hielt meinen Durst für eingebildet. Sie empfahl meiner Mutter, mein übermäßiges Trinken zu zügeln. Also versuchte sie, mir das unmäßige Trinken abzugewöhnen.
Im Spätsommer stellte meine Mutter regelmäßig eine große Kristallvase mit Blumen auf den Wohnzimmertisch. Das war für mich die Chance, unbeobachtet an Wasser zu gelangen. Ich schlich mich ins Wohnzimmer, nahm die Blumen aus der Vase und trank das faulige Wasser. Ekel verspürte ich nicht. Ich hatte nur quälenden Durst! Die Vase war leer, mein Magen schmerzte und ich hatte immer noch Durst.
Ende Oktober 1949 ging meine Mutter erneut zu unserer Hausärztin. Diese sah mich an, ließ sich meine Beschwerden schildern und sagte zu meiner Mutter. „Ich vermute, ihr Sohn hat Zucker. Mir fehlen jedoch die Möglichkeiten, eine sichere Diagnose zu stellen. Gehen Sie deshalb sofort ins Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE). Dort können die notwendigen Untersuchungen durchgeführt werden.“
Noch am selben Tag fuhren wir zum UKE. Nach der dortigen Untersuchung ordnete der behandelnde Arzt meine sofortige Krankenhauseinweisung an und am 11. November 1949 lieferte meine Mutter mich in der Kinderklinik „Haus Grüneck“ am Falkensteiner Ufer in Wedel ab. Die Kinderärztin dort gab mir eines mit auf den Lebensweg: „Du bist nicht krank! Du bist bedingt gesund!“
In dieser Kinderklinik hielt ich mich ¼ Jahr lang auf. Ich lernte, wie man Insulin injiziert und wie man mit der Krankheit Diabetes umgeht. Meine Eltern bekamen für mich einen festen Essensfahrplan, an den sie sich in meinem Interesse zu halten hatten.
Nach der Krankenhausentlassung war ich bis zu meinem 20. Lebensjahr in der Kinderpoliklinik des UKE ambulant in Behandlung. Zunächst musste ich die Klinik vierzehntäglich aufsuchen. Später reichte ein Besuch alle vier Wochen. Diese Untersuchungen fanden immer in aller Frühe statt. Der morgendliche Nüchternblutzucker und der Harnzuckergehalt wurden gemessen, das Gewicht kontrolliert und das subjektive Befinden abgefragt. Je nach Befund wurden Insulindosierung oder/und Tagesplan geändert oder beibehalten. Die Laborergebnisse erfuhr ich am nächsten Tag.

Als bei mir im Jahre 1949 Diabetes festgestellt wurde, konnte noch niemand an Selbstkontrolle des Blutzuckers denken. Das Leben eines Diabetiker war deshalb zwangsläufig – wie Frau Ulrike Thurm dies im Diabetes Journal EXTRA (Beilage zum DJ 1/2007) treffend beschreibt – „Autofahren bei Nacht ohne Licht.“
Rückblickend und unter Berücksichtigung meines derzeit guten Gesundheitszustandes muss ich sagen: Allzu viele Bäume habe ich anscheinend bei den damaligen nächtlichen Autotouren nicht umgenietet! Anderenfalls müsste ich heute verbeulter aussehen und nicht mehr so geländegängig sein. Die anerzogene Disziplin – also die strikte Einhaltung von Regeln – hatte zur Folge, dass ich mit der Qualität meines Lebens stets zufrieden sein konnte.

Das Insulin injizierte ich zunächst zu drei festgesetzten Uhrzeiten. Morgens um 7.00 Uhr, mittags um 12.30 Uhr und abends um 18.00 Uhr. Die Insulindosierung war fest vorgegeben. Eine halbe Stunde nach der Injektion gab es Essen, jeweils 4 BE, die Menge an Kohlenhydraten, war ebenfalls fest vorgegeben. Dieses Schema bestehend aus Insulindosis, Injektionszeitpunkt und BE-Menge musste streng eingehalten werden. Das eigenmächtige Abweichen von dieser Verhaltensschablone war ein schwerer Fehler, galt als „Todsünde“ und wurde vom Arzt strengstens getadelt.
Bei Nichteinhaltung dieser Schablone drohten sog. Spätschäden (z.B. Amputationen, Erblindung). Diese Spätschäden waren nicht nur für ein Kind schreckliche Vorstellungen. Deshalb stand für meine Eltern fest: Die Bedingungen werden jeden Tag aufs Neue erfüllt!

Die Beachtung dieses starren Tagesablaufes erforderte eine Disziplin, die Kindern nicht unbedingt angeboren ist. Aber meine Eltern achteten sehr auf die Einhaltung der Essens- und der Injektions-Zeiten sowie der BE-Mengen. Einer meiner Ärzte im UKE motivierte mich, als ich etwa 15 Jahre alt war, noch mit den Worten: „Diabetes ist nichts für Doofe!“ Er meinte damit, dass die unbedingte Beachtung der Verhaltensregeln Einsicht erfordert. Und Einsicht in das Unabänderliche setzt nun mal Intelligenz voraus. Diesen Arzt, Herrn Prof. Dr. Bierich, schätzte ich menschlich und fachlich sehr. Ihm gegenüber wollte ich nun keinesfalls als Dummkopf gelten. Also gab ich mir Mühe. Des Weiteren prägte er meine Einstellung zum Diabetes mit dem Satz: „Laß dich durch nichts aus der Ruhe bringen!“ (Heute würde er wohl sagen: „Immer cool bleiben!“)
Vor allem der erste Satz weckte meinen Ehrgeiz. (Wer lässt sich schon gern den Doofen zuordnen?) Ich eignete mir mit Hilfe des Buches „ABC für Zuckerkranke“ (von Prof. Dr. Ferdinand Bertram, Hamburg) Grundkenntnisse an und stellte mich bewusst Herausforderungen.

Zugute kam mir, dass ich nicht zum Bewegungsmuffel erzogen worden bin. Meine Eltern besaßen kein Auto. Spaziergänge und Wanderungen gehörten zum Wochenende. Mein Vater war ein Freund großer Wanderungen. Im Frühjahr und Sommer unternahmen er und ich häufig Tagestouren in der Lüneburger Heide. Auf mancher dieser Wanderungen brachten wir es auf eine Strecke von gut 40 km.
Noch heute gehe ich an fünf Tagen in der Woche Schwimmen und fahre bei gutem Wetter mit dem Rad.
Als 15-jähriger machte ich mit einigen Klassenkameraden eine vierwöchige, 2.000 km lange Deutschland-Radtour und in den nächsten Jahren mehrwöchige Wanderungen. Um alles komplikationslos zu bewältigen war das zu tun, was Frau Ulrike Thurm (aaO) in ihrem „Standardspruch“ sagt: „Nachdenken, planen und diszipliniert verhalten!“ Und das damals alles ohne die Blutzuckerselbstkontrolle! Es war wirklich nächtliches Autofahren ohne Licht.
Meine schulische Laufbahn, mein Studium und meinen beruflichen Lebensweg absolvierte ich problemlos. Es gab keine Stoffwechselentgleisungen und bisher nur eine schwere Unterzuckerung.

Denn die größten Gefahren, die mir in meinem doch schon längeren Diabetikerleben begegnet sind, waren nicht die unbeleuchteten Autotouren, sondern das waren Ärzte, die von der Diabetesbehandlung keine Ahnung hatten, dies aber nicht zugaben. Ich habe einige dieser Exemplare in der Zeit zwischen 1958 und 1966 selbst erlebt und Gott sei Dank überlebt. Ich kenne aus aktueller Zeit Diabetiker, die solchen Scharlatanen ausgeliefert waren und dies nicht überlebten. Hoffentlich wirkt die Einführung der „Disease Management Programme“ dieser Inkompetenz entgegen.

Last but not least hat gute ärztliche Betreuung zu meinem derzeitigen Wohlbefinden beigetragen. Qualifizierte Ärzte hatte ich während meiner Kindheit in der Kinderpoliklinik des UKE und ich habe sie seit 1966 in der Diabetiker-Zentrale Hamburg-Berliner Tor, das heutige „medicum Hamburg“. Diese Arztpraxis ist seit jeher auf die Behandlung von Diabetikern spezialisiert. Dadurch hatte sich dort ein großer diabetologischer Erfahrungsschatz angesammelt.

Seit 1998 kontrolliere ich als „ICTler“ meinen Blutzucker vier bis fünfmal täglich.
Es gilt bei mir die „Ulrike-Thurm-Devise“: Stets diszipliniert leben, Blutzucker messen, nachdenken, planen, BZ messen und wieder nachdenken.
Manche Blutzuckerwerte lassen sich auch nach längerem Grübeln nicht plausibel erklären. Dann fällt mir die Mahnung meines Kinderarztes wieder ein: „Lass dich durch nichts aus der Ruhe bringen!“
Da ich seit 1966 bei kompetenten Ärzten in Behandlung bin, bleibt mir immer noch die Möglichkeit, beim nächsten Arztbesuch Fragen zu stellen.

Veröffentlicht: 2016

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