Ich heiße Gertrud Reindl und wurde 1946 in Erbach bei Ulm geboren. Heute blicke ich auf meine 68jährige Diabetes-Erkrankung voller Erfahrungen und großen medizinischen Fortschritts mit Demut und Dankbarkeit zurück.
Erbach 1946 – Der Anfang einer besonderen Lebensreise
Als Einzelkind wuchs ich mit meinen Eltern behütet und umsorgt in Erbach, damals noch ein kleiner Ort, 12km vor Ulm auf. Beide Elternteile kamen aus Pforzheim. Mein Vater war im Krieg und meine Mutter Näherin. Meine Kindheit war geprägt von Ängsten, Unsicherheit und Verzicht innerhalb unserer kleinen Familie.
Zäsur mit elf Jahren: Die Diagnose Diabetes Typ I
Im Sommer 1957 fühlte ich mich nicht wohl. Nach Wochen voller Müdigkeit, ständigem Durst und Gewichtsverlust ging meine Mutter mit mir zum Kinderarzt nach Ulm. Nach einer Untersuchung und Blutabnahme sagte der Arzt ich wäre „schulmüde“ und hatte mich wieder nach Hause geschickt. Meine Mutter wollte mir etwas Gutes tun und gab mir zwei Flaschen Traubensaft zum Trinken, da ich so Durst hatte. Das war der Auslöser, dass ich 4 Wochen ins städtische Krankenhaus in Ulm kam, stark abgemagert und müde. An meinem Atem erkannte der junge Arzt, dass ich nach Azeton roch. Dies war ein eindeutiges Zeichen für Diabetes mellitus. So wechselten sich in den ersten Jahren 4 Wochen Krankenhaus-Aufenthalt mit Insulinbehandlung und Hafertage mit 4 Wochen zu Hause im regelmäßigen Turnus ab. Die Behandlungsmöglichkeiten damals waren sehr begrenzt. Die Blutzuckerbestimmung erfolgte über umständliche Urintests, auf einen Blutzuckerwert musste man mindestens 1 Stunde warten, Insulin musste mit langen Nadeln aus Glasfläschchen mit täglich ausgekochten Glasspritzen aufgezogen werden, und bei der Ernährung achtete meine Mutter zuhause darauf alles abzuwiegen, nach Broteinheiten zu berechnen und viele Sachen wegzulassen.
Das leckere Eis!
Die 1960er und 1970er Jahre: Meine erste Fortschritte
Zum Glück schaffte ich den Volksschulabschluss, aber der Wechsel zur Realschule war nicht möglich, da ich ständig im Krankenhaus war. Mein Wunschberuf Kindergärtnerin, Krankenschwester oder Gärtnerin wurde mir abgeraten. So begann ich eine Lehre als Fleischerfachverkäuferin. Ich fühlte mich oft ausgegrenzt und meine Lebensfreude war oft auf dem Nullpunkt, doch mein Wille durchzuhalten blieb ungebrochen. Meine Mutter verbot mir Sport zu machen und jegliche Anstrengung, wegen der Gefahr der Unterzuckerung. Ich wurde regelmäßig mit Schweine-Insulin in großen Glasampullen am Arm und Oberschenkel gespritzt. Zu einer mehrwöchigen Diabetes-Schulung durfte ich 1969 sogar nach Hösel bei Düsseldorf. Allmählich verbesserten sich die medizinischen Möglichkeiten: Schnellwirksames Insulin wurde eingeführt, die Nadeln wurden feiner, und in den 1970ern konnten Blutzuckerwerte präziser im Labor ermittelt werden. Ich hatte das große Glück einem wertvollen Menschen zu begegnen, meinen Mann. Er kannte sich zwar mit Diabetes anfangs gar nicht aus, aber er war sehr einfühlsam und gab mir immer wichtige Anstöße und Tipps zu neuen technischen Entwicklungen und achtete auch auf mich in meinem Alltag, wenn es mir nicht so gut ging. Er war neben meiner Mutter meine wichtigste Stütze. Wir heirateten 1972. Zwei Jahre später bekam ich eine schwere Unterleibs-Operation (Endometriose). Das war nochmals ein großer persönlicher Einschnitt. Eine Familienplanung mit eigenen Kindern war somit ausgeschlossen. Danach kam ich das erste Mal einige Tage ans Küpa (künstliches Pankreas), das den Blutzucker aufzeichnete und das Insulin bedarfsgerecht abgab. Mit regelmäßigen Behandlungen wurden meine Blutzuckerwerte endlich stabiler.
Meilensteine der Diabetes-Therapie
Ein Wendepunkt war die Einführung der Insulinpumpe in den 1980er Jahren. Meine erste Pumpe bekam ich 1988 von MiniMed an der Uniklinik in Ulm beim Oberarzt Dr. Kerner mit seinem Team. Dies brachte mir mehr Flexibilität und Lebensqualität. Die Pumpe wurde zu meinem ständigen Begleiter und ermöglichte mir ein selbstbestimmteres Leben. Mein Alltag war leichter zu gestalten und aktive Hypos (mit Bewusstlosigkeit) habe ich mit großem Glück bis heute nicht erleben müssen! Hyperglykämien lernte ich früh mit einem festen Spritzschema langsam zu senken. Mein Langzeitzucker bewegte sich all die Jahre im Schnitt zwischen 6.5 – 7.2 mg/dl. Die Pumpe wurde nach der Garantie alle 4 Jahre erneuert. Zu einer intensiven Pumpenschulung war ich in der Diabetiker Klinik Bad Mergentheim.
Heute steuere ich meine Diabetes-Therapie mit einem hochmodernen CGM-System: Freestyle-Sensoren messen kontinuierlich meinen Blutzucker, die neue MiniMed-Pumpe 780G passt die Insulinmenge automatisch an. Ich bin beeindruckt von den Fortschritten und der gewonnenen Lebensqualität.
Auf und Ab: Das emotionale Leben mit Diabetes
Diabetes bedeutete und bedeutet für mich ein ständiges Auf und Ab. Es gab Zeiten, in denen ich mich zurückzog, aber auch Momente des Mutes, besonders durch den Austausch mit meinem Mann und mit meiner Fachärztin Frau Dr. Buchwald. Die schönsten „Hochs“ waren meine vielen Wanderungen mit meinem Mann im Zillertal, das über 50 Urlaubsjahre zu meiner zweiten Heimat wurde. Diese „Hochs“ und meine Insulinpumpe halfen mir, Unsicherheiten und Ängste besser zu bewältigen und gaben mir stets halt, mit den schwierigen Abschnitten, wie Krankheit und physischen Leiden besser umzugehen. Oder wie vor kurzem, als ich zwei Stents aufgrund von Ablagerungen am Herzen erhielt. Dennoch hatte ich viel Glück, dank guter Blutzucker-Einstellungen, dass ich bis heute so gut wie keine diabetischen Folgeschäden habe.
Auch mit dem Hintergrund, dass mir mit 11 Jahren Ärzte und Helfer sagten, ich würde wohl nicht sehr alt werden, evtl. mal blind sein und keine Füße mehr haben. Welch ein Irrtum!!
Neue Hoffnung: Die Zukunft der Diabetes-Therapie
Fast 80 Jahre alt, blicke ich nun voller Dankbarkeit und Demut zurück. Ich habe vor zwei Jahren leider meinen geliebten Mann verloren, der mir eine starke Säule in meinem Leben war. Ich bleibe dennoch offen für neue Entwicklungen und verfolge die Forschung zu künstlicher Bauchspeicheldrüse und Zelltherapie mit Hoffnung für kommende Generationen.
Fazit: Ein Leben im Wandel – und voller Zuversicht
Mit meiner Geschichte will ich zeigen, wie eng medizinischer Fortschritt und individuelles Erleben miteinander verbunden sind. Die Nutzung der Insulinpumpe war für mich ein entscheidender Schritt zu mehr Eigenständigkeit und Lebensfreude, im Beruf, als auch privat. Meine Offenheit für Neues und der Austausch mit anderen haben mich durch die Höhen und Tiefen begleitet. Mein langes Leben mit Diabetes soll vor allem Eltern, Kindern und Jugendlichen, die mit einer solchen Diagnose konfrontiert werden Mut machen.
Es lohnt sich mit Diabetes zu leben. Nach dem Motto: Du hast Dein Leben „selbst in der Hand“, mache das Beste daraus.
Veröffentlicht: 2025




