Gerhard Klein

(53 Jahre Diabetes)
Gerhard Klein

Vom Spielball des Diabetes zum spielerischen Umgang mit dem Diabetes

Mein Diabetes Typ 1 wurde im Alter von 12 Jahren im Anschluss an eine Angina vom Hausarzt auf Grund meines extremen Durstes auf Anhieb diagnostiziert. Es folgte die Einweisung in die Uni-Kinderklinik Tübingen. In der ersten Nacht wachte ich schweißgebadet auf. Die Schwester reagierte vorwurfsvoll und ich wusste nicht so recht, was ich falsch gemacht hatte. Am nächsten Morgen wurde ich aufgeklärt, was ein hypoglykämischer Schock ist und was gegebenenfalls zu tun ist. Nach drei Wochen wurde ich gut vorbereitet in das neue Leben entlassen.

Neu war die tägliche Spritze Insulin, die Einschränkungen und Zwänge bei den Mahlzeiten und den Freizeitaktivitäten, sowie die ständige Sorge meiner Eltern. Nach zwei problemlosen Jahren fingen in der Pubertät die Schwierigkeiten an mit zahlreichen schweren Hypoglykämien. Doch auch das wurde wieder besser, wobei ich aber doch gelegentlich das Gefühl hatte, zu kurz zu kommen, etwa als ich an einer Skifreizeit in der 7. Klasse nicht teilnehmen durfte.

Ich machte Abitur, studierte Chemie, ging für 18 Monate als Post-Doc in die USA, heiratete und war froh, bei Bayer eine Stelle in der Forschung angeboten zu bekommen. Mein Abteilungsdirektor erzählte mir fünf Jahre später, dass die ärztliche Abteilung sich gegen meine Einstellung ausgesprochen hatte. Ich arbeitete 30 Jahre bei Bayer, sechs Jahre in der Forschung und danach als Betriebsleiter in verschiedenen Produktionsbetrieben.

Der Umgang mit dem Diabetes fiel mir von Jahr zu Jahr leichter. Dazu trugen natürlich wesentlich die technologischen und therapeutischen Fortschritte bei. Ich erinnere mich an mein erstes Blutzuckermessgerät, einen Reflolux, in 1978. Was für ein Unterschied zu dem 18-jährigen Blindflug davor! Mit der Umstellung auf die Basis-/Bolus-Therapie zehn Jahre später verursachten Besprechungen, die sich endlos in die Mittagspause hineinzogen, keine Schweißausbrüche mehr. Die Einführung der Analoginsuline, speziell die Umstellung auf das Basalinsulin Levemir, führten zu einer weiteren Verbesserung meines HbA1C.

Nicht nur in der Diabetologie war die kontinuierliche Darstellung von Analysenwerten ein Innovationsschwerpunkt ab 1990. In meinen letzten zehn Jahren als Betriebsleiter war die Einführung der betrieblichen Online-Analytik für mich ein faszinierendes Projekt. Dabei wurde die Probenahme aus dem Reaktor, mit anschließender Analyse im Labor, ersetzt durch eine kontinuierlich arbeitende Messsonde im Reaktor. Die Auswirkung auf die Chargenlaufzeit, die Qualitätskonstanz und das Betriebsklima waren immens. Bei meiner Verabschiedung wurde ich gefragt, was ich denn nun im Ruhestand machen werde. Ich antwortete, ich würde mich mit der Online-Analytik bei Diabetikern beschäftigen.

Ich besorgte mir das Diabetes-Forschungsbuch und war beeindruckt von den vielfältigen Anstrengungen, die seit 1990 mit Bezug auf das kontinuierliche Glucosemonitoring (CGM) gemacht worden waren und enttäuscht über die vielen Rückschläge.

Die CGM-Entwicklung hatte 2006 einen gewissen Abschluss gefunden: Es wurde das Messprinzip der herkömmlichen BZ-Messgeräte übernommen. Dabei wird aus der Oxidation der zu bestimmenden Glukose mit dem Enzym Glukoseoxidase (GOD) in mehreren Schritten ein Messstrom erzeugt und daraus der Glukosewert errechnet. Bei CGM erfolgt die Messung nicht mit Kapillarblut sondern mit einem Sensor in der Zellflüssigkeit der Unterhaut. Marktführer war Medtronic mit dem Guardian Realtime. Daneben war in Amerika noch Dexcom aktiv. Abbott hatte die Entwicklung des Freestyle Navigators noch nicht abgeschlossen.

Gespräche mit zwei Diabetologen in Leverkusen brachten keine neuen Erkenntnisse. Ich leistete mir deshalb in 2007 eine Privatsprechstunde in der MNR-Klinik in Düsseldorf bei Prof. Scherbaum. Er sah sich meine Werte an und riet mir von CGM ab: zu teuer, zu ungenau, irreführend bei fallendem Blutzucker wegen der Messung in der Zellflüssigkeit und bei meiner guten Einstellung unnötig. Ich fuhr ernüchtert, aber immer noch motiviert nach Hause. Im Internet stieß ich auf einen Vortrag über den Freestyle Navigator von Abbott und die dabei zur Anwendung kommende „Wired Enzyme Technology“. Auch dieses System arbeitet mit dem Enzym GOD. Neu war die Anbindung des Enzyms an eine Polymerkette und eine neuartige Erzeugung des Messstroms. Als Chemiker war mir sofort klar, dieses System würde bei Messgenauigkeit und Sensorlaufzeit überlegen sein. Ich entschloss mich spontan zum Kauf des Navigators, ohne das Gerät vorher in den Händen gehabt zu haben. Ich musste allerdings noch warten bis zur Markteinführung in Deutschland im Mai 2008.

Mein Diabetologe fragte mich, ob ich die Wartezeit nutzen wolle für die Umstellung auf eine Pumpe. Ich sagte nein, ich wolle nicht zwei Dinge gleichzeitig ändern. Die Inbetriebnahme wurde von einem Abbott-Mitarbeiter bei meinem Diabetologen vorgenommen. Die Sensorlaufzeit betrug fünf Tage. Ein Sensor kostet 65 Euro, dazu kommen noch die Einmalkosten für den Empfänger und den Transmitter von damals rund 1000 Euro, also kein ganz billiges Vergnügen. Ich nutzte die ersten zwei Wochen dazu, einfache Zusammenhänge herauszufinden: Wie wirkt sich ein Extrabolus von 1 IE, ein verlängerter Spritz-Essabstand, die Aufnahme von einem BE oder eine Stunde Radfahren auf den Kurvenverlauf aus und welche Unterschiede bestehen zwischen dem CGM-Wert und dem Kapillarblutzucker. Dabei wurde mir schnell klar, dass CGM viel mehr ist als der aktuelle Glukosewert mit einer Trendanzeige und die sichere Vermeidung von schweren Hypoglykämien. Ich war begeistert vom ersten Tag an und bin es heute immer noch.

Schnell fand ich heraus, wie ein einmal gesetzter Sensor in eine neue Fünf-Tage-Periode verlängert werden kann. Zu meiner großen Freude konnte ich bei einer Ausdehnung der Tragedauer auf 30 Tage keine Verschlechterung der Messgenauigkeit feststellen. So hatte ich mir die „Wired Enzyme Technology“ vorgestellt! Meine täglichen Sensorkosten haben sich dadurch von ca. 13 Euro auf 2 Euro reduziert. Dabei ist die Einsparung von 3 Teststreifen pro Tag (ca. 1,50 Euro/Tag, die allerdings nur meiner Krankenkasse zugute kommen) noch gar nicht berücksichtigt.

Entschieden widersprechen möchte ich der gängigen Auffassung, dass CGM nur Sinn mache in Kombination mit einer Pumpe. Selbstverständlich ist die Einstellung einer vernünftigen Basalrate mit einer Pumpe leichter als mit zwei oder drei Levemir-Injektionen. Entscheidend bei der CGM-Anwendung ist das Erkennen von Ursachen für einen bestimmten Glukoseverlauf und die Ableitung von geeigneten Maßnahmen. Diese Korrekturreaktionen müssen bei einem Pen-Nutzer zwangsläufig anders, aber nicht unbedingt weniger effizient sein als bei einem Pumpenträger. Das eigenverantwortliche CGM-Handling ist kein Hexenwerk. Jeder motivierte Diabetiker wird es schnell begreifen. HbA1c-Werte unter 6,5 und eine deutliche Reduzierung der Blutzuckerstreuung sollten für jeden CGM-Nutzer erreichbar sein. Ebenso klar ist aber auch, dass das bloße Tragen eines CGM-Systems, ohne eigenständiges Agieren, dem Träger wenig nutzt und nur den Diabetologen stresst.

Hinzu kommt ein unbezahlbarer Gewinn an Lebensqualität. Wir unternehmen jetzt Radtouren von 500 bis 700 km ohne die geringste Angst vor Hypoglykämien.

Ich habe das große Glück, bis heute von nennenswerten Spätfolgen verschont geblieben zu sein. Meiner Familie und allen, die mich in den 53 Jahren unterstützt haben, bin ich sehr dankbar. Und ein klein wenig stolz bin ich auch auf meinen Eigenbeitrag.

Veröffentlicht: 2013

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