Birgit Behrendt

(54 Jahre Diabetes)
Birgit Behrendt

Tja- totgesagte leben länger 🙂

Ich heiße Birgit Behrendt und bin am 31.12.1955 als Zwilling bei Getöse und Silvesterknallern in Jena/Thüringen geboren. Ich bin mit viel Liebe und elterlichem Engagement groß geworden. 1960 hatte ich das Glück an einen Arzt zu geraten, der sich nicht davor ekelte, meinen Urin zu kosten und dadurch die Diagnose Diabetes Typ 1 stellen konnte. Welch Glück für die Ärzte der heutigen Zeit, die heutzutage technische Möglichkeiten der Untersuchung haben. Es war die Zeit, in der man noch dachte, Schmalz bindet Insulin und in dem Kinderheim „Garz“ auf Rügen, in dem ich ein bis zwei Mal im Jahr neu auf Insulin eingestellt wurde, gab`s damals Schmalzstullen zum zweiten Frühstück! Ich habe mit fünf Jahren in der DDR gelernt, mich zu spritzen, mit Nadeln, die Widerhaken hatten und Spritzen, die undicht waren. Ich habe Zucht und Ordnung in Garz erfahren und gelernt, dass heimlich ein Brötchen zu essen eine Straftat war.

Mit 20 Jahren wurde mir eine Lebenszeit von nur noch fünf Jahren prophezeit. Ich kenne das Leben nach Briefwaage noch, wo ne Ecke vom Brot abgeschnitten wurde, damit die Grammzahl stimmt, die auf die Insulinmenge abgestimmt war! Ich habe erfahren, dass es zwei Menschentypen gab mit Diabetes. Die einen zogen sich zurück mit Selbstmitleid und Verbitterung und hatten bald auch weder Freude noch Freunde, die anderen entwickelten eine Art Galgenhumor und versuchten das Beste draus zu machen! Ich gehöre zum Glück zu den letzteren. Deshalb wurde ich im Kinderheim auch mal über ne Stunde allein in ne Besenkammer gesperrt. Ich hatte in der Mittagspause nämlich einer anderen Patientin Witze erzählt, weil sie Heimweh hatte. Damals war eine hochgewachsene schlanke Lady mit zum Knoten gebundenem Haar die Wächterin über uns „süßen“ Kinder. Sie schlich heimlich in selbstgestrickten Strümpfen über den Flur und lauschte, ob wir auch schliefen oder zumindest Ruhe hielten. Tja erwischt – und damit dunkle Besenkammer !!! Ich weiß noch immer, welche Angst ich damals hatte.

Zum Spritzen mussten wir uns vor dem Schwesternzimmer anstellen. An einer großen Schultafel standen die Namen der Patienten und daneben die entsprechenden Insulineinheiten, die sich täglich änderten. Wir machten uns dann lustig über manche Namen. Der lustigste war damals “ Brühschwein“. Der arme hatte manches auszustehen. Als Erzieher hatten wir eine Frau Vogelsang. Sie liebte das Singen und das taten wir dann auch mit ihr, selbst auf Wanderungen. Mit einer Frau Schab haben wir gebastelt gemalt und geschabt.

Garz war ein dunkle Villa etwas außerhalb vom Stadtkern und von Stacheldraht umgeben. Wir haben dort oft das Moorsoldatenlied gesungen: „Hier in dieser öden Heide ist das Lager aufgestellt, wo wir fern von jeder Freude hinter Stacheldraht verstaut, Wir sind die Diabetiker und ziehen mit dem Köfferchen nach Garz.“ Ja, ich habe es gehasst – dieses Garz. Aber es war ja notwendig um den Blutzucker einzustellen, denn Teststreifen gab es noch nicht.

Später, so mit 16 Jahren, fuhr ich dann nach Karlsburg zur Einstellung zu den Erwachsenen. Dort wurden dann auch schon erste Veränderungen am Augenhintergrund (Netzhaut) festgestellt. Eine Zeit der Lichtkoagulation, später durch Lasern abgelöst. Ich war dann fast jährlich fällig – manchmal 500 Schuss am Stück. Einmal war mein sonstiger Arzt nicht im Haus und ich kam zu einem anderen Arzt. Der konnte seinen Mund nicht halten und ich hörte ständig „scheiße, wieder daneben !“ Oh man der zerschießt mir die ganzen guten Stellen!!!! Ich hatte Angst und habe es nach der dritten Äußerung abgebrochen. Seit dem bin ich nie wieder zu einem anderen Augenarzt gegangen.

In Karlsburg war das Leben dann angenehmer. Tages und Nacht-Blutzuckerprofile und strenge Spritz- und Essenszeiten gab es zwar auch, aber man hatte Freizeit, auch mal weg zu fahren, wenn nicht Arbeitstherapie mit Laub harken, Fenster putzen oder sonstiges anstand. Die männlichen Patienten, die manchmal auch Angst vor der sogenannten Diabetischen Impotenz hatten, liefen immer zum Anreisetag schon mal zum Bahnhof, um sich nen süßen Kurschatten auszugucken. Da konnte man dann so allerlei erleben. Ich hatte immer Glück. Wir waren meistens ne Truppe von 8 bis 10 Leuten. Haben viele Wanderungen, Fahrten und Sport gemacht. In die obere Etage konnte ich nie gehen. Ich hatte Angst davor meine Zukunft dort sehen zu müssen. Dort lagen Blinde, Dialyse-Patienten und Menschen mit amputierten Beinen. Mir hatten Sie mit 16 Jahren das Buch „von Aceton bis Zucker“ in die Hand gedrückt, in dem alles bilderreich beschrieben wurde, welche Spätschäden ich zu erwarten habe.

Da war erstmal das Leben zu Ende für mich. Welche Zukunft – Pflegefall. Um aus dem Fenster zu springen, war ich zu feige. Also verkroch ich mich zu Hause und fing an zu malen. Mein Blutzucker war immer schlecht und Selbstmitleid zerfraß mich. Als ich wiedermal in Karlsburg war lernte ich eine junge Frau kennen. Sie war 30 Jahre jung und wir verbrachten viel Zeit miteinander. Sie zeigte mir, wie schön das Leben trotzdem sein kann und ich begann das Leben im JETZT zu sehen. Leider ist Marianne schon lange tot. Aber ich werde sie nie vergessen. Heute bin ich 59 Jahre – lange überfällig!!! Doch ich denke nicht ans Aufgeben! Ich habe studiert, arbeite als Buchhalterin in einem gemeinnützigen Verein, habe eine liebe Familie, tolle Freunde und immer noch jede Menge Lebenslust.

Lebensfreude und Lachen sind die beste Medizin und sie verbessern dazu noch die Blutzuckerwerte!! Ich danke den engagierten Ärzten und Forschern für die tollen technischen Möglichkeiten dieser Zeit. Es ist Wahnsinn, was sich seit 1960 alles getan hat. Von Blutzuckerteststreifen bis zur Insulinpumpe!! Ich habe das Buch von Prof. Dr. Hellmut Mehnert gelesen und war gebannt und ergriffen von seinem Leben!!! Von dem Engagement, seiner Kraft, seinem Willen und dem Lebensmut, Tiefschläge zu überstehen, immer wieder aufzustehen! Das habe ich auch. Die Spätschäden an Augen und Nieren bekommen mich nicht klein. Ebenso wenig die Wehwehchen des Älterwerdens, die sich mit Arthrose schon anschleichen. Ich lebe nach der Devise: Nix ist so schlimm, als das sich nicht noch was gutes drin findet! Denn was wäre die Alternative??? Mit 40 aus dem Fenster springen???!!!

Was bin ich für ein Glückskind! Wenn man sich an bestimmte Regeln hält, ist es heute möglich ein ganz normales Leben zu führen. Ich treibe Sport, reise gerne, liebe Theater, Musik und Literatur und habe eine Menge Lebenslust und Humor! Früher dachte man ja, dass Diabetiker besonders schlau wären, weil Denken Energie braucht. Das dies sich nicht bestätigt hat, liegt hoffe ich, nicht an mir!!

Hoch lebe das Leben, hoch lebe das Insulin! Ich schaue mir manchmal demütig die kleine Insulinampulle an, von der mein ganzes Leben abhängt und sage „DANKE !!!!“ Als Kind hatte ich mal gedacht, was machst, wenns mal kein Insulin gibt? Überlegte mir, ein Schwein zu halten und mich mit einem Katheter an seine Bauchspeicheldrüse zu hängen. Ja – Kindergedanken!! Gerhard Katsch hat mal gesagt „Ein Diabetiker ist nicht krank, sondern bedingt gesund.“ Er hat Recht! Das Leben ist schön, man kann es auch mit Diabetes genießen!

Ich wünsche allen ein glückliches, humorvolles, erfülltes Leben! Macht was draus. Es liegt viel an einem selber! Mit einem Lachen geht alles besser! DANKE !!!

Veröffentlicht: 2015

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