Angelika Deichmann

(50 Jahre Diabetes)
Angelika Deichmann

Ich war noch auf dem Gymnasium, als meine Leistungen nachließen, ich an Gewicht verlor, unerträglichen Durst hatte und eine Wunde am Fuß nicht heilen wollte. Irgendwann schickten mich meine Eltern zum Arzt. Wie hoch der Blutzucker war, weiß ich nicht. Ich musste sofort ins Krankenhaus und erhielt drei Tage lang Haferflockensuppe in Wasser gekocht, wegen des Azetons. Insulinspritzen bekam ich natürlich auch. Aufgeklärt über meine Krankheit wurde ich nicht. Ich war der Meinung, dass ich nach vier Wochen Krankenhausaufenthalt gesund entlassen werde. Kurz vor meiner Entlassung sagte eine Schwester zu mir: „So, nun spritzen Sie mal selbst. Das müssen Sie bis zum Lebensende tun.“ Das war der größte Schock meines Lebens.

Nun ja, ich bekam ein Depot Insulin und einen Diätplan: 300g Brot, 300g Kartoffeln, 1 Apfel oder 1 Apfelsine, 70g Fett inkl. versteckter Fette, viel Gemüse, keine Bananen und keine Weintrauben. Das Depot Insulin vom Schwein musste ich morgens spritzen und ca. alle zwei Stunden etwas essen. Es gab ja noch keinen Pen oder Teststreifen. Alle 4 Wochen musste ich ein sogenanntes Tagesprofil erstellen lassen. Die Spritzen und Kanülen kochte ich regelmäßig in einem dafür vorgesehenen Behälter aus. Mein Abitur habe ich geschafft, doch der Wunsch, Sport zu studieren, war nun nicht mehr realisierbar.

Also was tun? Meine Überlegungen waren diese: Wenn ich an einer Schule arbeite, kann ich in den Ferien in die sogenannte Diabetes-Klinik zur Neueinstellung und zur Kontrolle. Außerdem habe ich nachmittags frei – das war damals noch so. Also studierte ich an der PH und wählte bewusst Hauswirtschaft als Wahlfach. Darin schrieb ich im Bereich Ernährungslehre meine Examensarbeit über den Stoffwechsel und die Ernährung eines Diabetikers. Somit musste ich auch medizinische Bücher lesen. Ich verstand zum ersten Mal meine Krankheit! Wie gut haben es doch heute die jungen Leute!

Das Studium und auch das Privatleben waren allerdings nicht immer einfach. Die Unterzuckerungen traten natürlich immer mal wieder auf. Ich wollte ja oftmals meine Krankheit vor anderen verbergen. Als ich später einen Arzt als Freund hatte, konnte ich endlich frei mit dem Diabetes umgehen. Doch leicht war alles nicht. Der Diabetes war immer im Kopf dabei. Vor ca. 20 Jahren wurde ich dann auf das Basis-Bolus-System umgestellt. Das war zunächst eine tolle Sache. Ich aß sofort zwei Stück Bienenstich, den ich ja seit ewiger Zeit nicht gegessen hatte. Anfangs war das schon alles sehr schön, essen zu können, was man mehr oder weniger wollte und wann. Doch das ständige Messen, Spritzen und entsprechend Essen wurde teilweise schon zu einem richtigen Problem.

Wenn ich die Zeit mit früher vergleiche – trotz aller Probleme – war die Disziplin größer. Vielleicht habe ich auch bis heute deswegen noch keine Spätschäden. Wer weiß? Da das Angebot an Süßem sehr groß ist – man darf ja alles essen – ist es für Diabetiker sehr schwer, den Überblick zu behalten und die Menge, die man essen möchte, dem Insulin anzupassen. Auch beim Sport, der ja in jeder Hinsicht wichtig ist, muss man mit dem Essen und dem Insulin aufpassen. Doch das muss jeder für sich selbst herausfinden.

Als ich 30 Jahre wurde, hatte ich mich entschlossen, kinderlos zu bleiben. Zu der Zeit war eine Schwangerschaft noch risikoreich, es gab ja keine Insulinpumpe. Heute ist es für Frauen viel leichter, sich einen Kinderwunsch zu erfüllen. Da ich in meinem Beruf immer mit Kindern zu tun hatte, war es nicht so schwer. Mein Beruf hat mir sehr gut gefallen – ich habe sogar Sport unterrichtet – wurde verbeamtet und habe wegen des Diabetes nie fehlen müssen. Darauf bin ich sehr stolz.

Wenn ich zurückdenke, hat sich für Diabetiker sehr viel getan. Man muss es nur nutzen. Die intensive Aufklärung und Schulung ist oberstes Gebot. Jeder Diabetiker ist für sich selbst verantwortlich. Das Diabetes-Journal beziehe ich schon seit ungefähr 40 Jahren und es ist sehr informativ, obwohl sich für einen „alten Hasen“ vieles wiederholt.

Zum Abschluss möchte ich noch einen Vorfall durch eine Unterzuckerung erzählen, den ich keinem wünsche. Vor ca. 11 Jahren fuhr ich mit dem Auto über eine Autobahn zu meiner Mutter. Im Baustellenbereich bemerkte ich die ersten Anzeichen einer Unterzuckerung. Obwohl ich überall Glukose parat liegen hatte, fuhr ich erst auf den nächsten Parkplatz hinter der Baustelle. Wie viel Traubenzucker ich gegessen habe, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall habe ich nicht lange genug gewartet und bin weitergefahren. Wieder auf der Autobahn bin ich – wie ich später erfuhr – 10 km Schlangenlinien gefahren. Der Fahrer eines Autos hinter mir glaubte, dass dort eine Fahrerin mit Alkohol oder Drogen am Steuer sitzt. Er gab den Fahrzeugen hinter sich ein Zeichen, nicht zu überholen. Gleichzeitig hat er natürlich die Polizei informiert. Irgendwann, wie gesagt nach 10 km, bin ich dann an der rechten Leitplanke mit dem Auto hängengeblieben. Die mittlerweile erschienene Polizei fand meinen Diabetikerausweis und fuhr mich ins nächstgelegene Krankenhaus. Im Polizeiauto war ich noch nicht ansprechbar. Ich hatte nur eine wage Ahnung von dem, was passiert sein könnte. Nach einer Traubenzuckerinfusion wurde ich wieder klar und erkannte einen Polizisten. Der sagte nur: „Ah, jetzt kann die Dame auch wieder richtig sprechen. Wir fahren Sie später zu ihrem Wagen und zeigen Ihnen, welche Strecke Sie in Schlangenlinien gefahren sind.“ Gesagt getan. Es war unvorstellbar für mich, diese Strecke gefahren zu sein. Auf einer Landstraße und ohne diesen Schutzengel weiß ich nicht, ob ich das alles überlebt hätte. Mit dem Auto konnte ich dann noch meine Reise fortsetzen. Bei meinem Schutzengel, dessen Telefonnummer ich von der Polizeistation erhalten hatte, habe ich mich telefonisch bedankt.

Veröffentlicht: 2013

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