Es war an einem Sonntagnachmittag im Mai 1963, als meine Eltern mich in die Kinderklinik brachten. Seit einiger Zeit trank ich literweise Wasser, hatte keinen Appetit mehr, wurde immer dünner, müder und schlapper.
An diesem Tag wurde bei mir im Alter von 9 Jahren erstmals Diabetes mellitus diagnostiziert. Ich bekam sofort Insulin. Damals war Diabetes Typ 1 in diesem Alter noch so selten, dass es selbst in der nahe gelegenen Uniklinik noch keine Erfahrungen mit Therapien mit Kindern in diesem Alter gab und die Kinderklinik deshalb in ständigem Kontakt mit der weit entfernten Uni Düsseldorf stand.
In den ersten drei Tagen bekam ich nur gesalzenen Wasser-Haferschleim und Suppe zu essen, viel Mineralwasser und Tee (zum Entgiften). Das grell gelbe, übersüße Laevoral schmeckte scheußlich. Mehrmals am Tag kam die Laborantin mit einem Tablett, auf dem die Haemostiletten und das Zubehör für die Blutzuckertests waren. Innerhalb weniger Tage ging es mir schon wieder gut. Auf die Visiten war ich immer besonders neugierig. Warum ich immer Insulinspritzen bekommen muss, erklärten sie mir geduldig.
Meine Mutter lernte vor der Klinikentlassung, wie die Ernährung für mich berechnet werden muss und wie sie die Glasspritze auskocht, zusammensetzt und mir Insulin spritzt. Damals wurde nur eine feste Dosis Langzeitinsulin gegeben und mit Austauschtabellen für die vorgegebenen BE die Diät individuell zusammen gestellt.
Das wichtigste für meine Eltern war, dass ich in nichts meinen Freunden nachstehen und mein Kinderalltag wie vor der Diagnose sein sollte. Blutzuckertests machte der Hausarzt. Die Spritze wurde vor und nach dem Benutzen in einem kleinen silberfarbenen Stiltopf in Wasser ausgekocht und mit einem Tuch abgedeckt. Meiner Mutter hatte das Insulinspritzen mehr weh getan, als mir und so war ich mit dem Vorschlag, selbst Spritzen und die Diätberechnung in einer Kinderkur für Diabetiker zu lernen, sofort einverstanden. Mich selbst um meine Insulinspritzen und die Diät kümmern zu können, bedeutete mehr Freiheit für mich. Das Spritzen übten wir damals zuerst an einer Orange. Und ich war stolz, die Spritze alleine zusammensetzen, das Insulin aufzuziehen und mich selbst spritzen zu können. Kanülen gab es nur 5 im Quartal und wenn sie manchmal Widerhaken hatten, wurden sie einfach mit einer Nagelfeile geglättet.
Die ersten Übernachtungsversuche außer Haus machte ich bei einer Freundin, deren Mutter eine Schwester hatte, die als junges Mädchen an Diabetes erkrankte. Dort lernte ich erstmals Bohnenschalentee zur unterstützenden Therapie kennen und wie wichtig Nüsse für Diabetiker sind. Auch den Ratschlag aus der Kinderkur, bei Hunger Magerquark zu essen, weil er nicht berechnet werden muss, lernte ich durch die Tante meiner Freundin als mögliches Risiko für die Nieren durch zu viel Eiweiß kennen. Von ihr kam der Rat, den ich immer befolgt habe, kein Schweinefleisch zu essen, überhaupt möglichst auf Fleisch zu verzichten und auf naturnahe Nahrung zu achten, insbesondere auf Salat, den ich auch bei Hunger ohne Anrechnung essen kann. Ihre selbstgemachte Dickmilch schmeckte mir allerdings gar nicht.
Am Schlimmsten fand ich, wenn jemand mich als armes Kind bedauerte, nur weil ich Diabetes hatte. Ich war kein armes Kind und machte alles, was andere Kinder in meinem Alter auch machten. Es gab keine Ausnahmen, bis auf das Spritzen, Blutzuckermessen und die Diät. Es gab bei uns nur gelegentlich für die Kinder ein Stück Schokolade, ich konnte gut darauf verzichten. Hypoglykämien versuchten wir zu vermeiden. Die Ärzte hatten meiner Mutter gesagt, dass bei einer Hypoglykämie das Gehirn schwellen kann. Werte im Hunderterbereich sollten nicht über- und möglichst auch nicht unterschritten werden, hatten sie uns gesagt.
Bis zu einer Leistenbruch-OP mit 19 Jahren war ich seit der Erst-Diagnose nie wieder krank oder im Krankenhaus. Mit dem Diabetes kam ich gut und zunehmend alleine klar. Schon während der Schulzeit fing ich an, von erfahrenen Diabeteskennern gesteckte Grenzen zu ignorieren, wie: Du kannst nur Diätassistentin werden, du wirst nicht älter als 40 Jahre, kein Mann will eine Frau mit Diabetes, Kinder darfst du auf keinen Fall haben und andere nette Empfehlungen. Ich studierte nach dem Abitur Sozialpädagogik für Jugend-und Erwachsenenbildung, arbeitete in der offenen Jugendarbeit, machte Individualreisen durch Europa, Israel und Westafrika. Ich heiratete nach dem Studium meinen Mann, mit dem ich schon Jahre vorher zusammenlebte.
Mit der Einführung visuell auswertbarer Blutzuckerteststreifen, die ich auch heute noch zusätzlich zum Messgerät habe, begann für mich eine neue Freiheit: Ich MUSSTE nicht mehr essen, ich konnte meine Diät flexibler handhaben, auch mal auf Essen verzichten.
1978 war ich zum ersten Mal schwanger und bekam erstmals ein elektrisches Blutzuckermeßgerät mit Netzanschluss für zuhause, sodass ich mich mit Langzeit- und Kurzzeitinsulin intensiviert behandeln konnte, um glykämische Werte nahe der Norm zu erreichen. Die visuell auswertbaren Teststreifen, die ich bis dahin benutzte, waren dafür nicht genau genug. So stellte mir die Klinik ein großes elektrisch messendes Blutzuckermeßgerät zur Verfügung. Die Glasspritze hatte ich schon lange gegen praktischere Einmalspritzen getauscht. Im Januar 1979 wurde mein erster Sohn mit damals bei Schwangeren mit Diabetikes leider üblichem Kaiserschnitt geboren. Einige Wochen vor seiner Geburt machten mein Mann und ich noch einen Kurzurlaub in England.
Vier Jahre später wurde im November 1982, nach einer ebenfalls problemlosen und ausschließlich ambulant begleiteten Schwangerschaft – in der wir mit meiner Ente noch eine unvergesslich schöne Reise durch Südschweden machten – mein zweiter Sohn geboren (den Baumfällerlehrgang, den ich damals wegen der Schwangerschaft leider nicht machen konnte, holte ich einige Jahre später nach).
Als mein zweiter Sohn in die Schule kam, fing ich wieder an zu arbeiten. Ich nahm die Leitung einer Vorklasse mit multikulturellen Kindergruppen in der Grundschule an und wurde später als Fachlehrerin verbeamtet. Meine Arbeit mit den Kindern war auch verbunden mit interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Kinderärzten, Therapeuten, Psychologen, Kindergärten, Kollegen, mit intensiver Elternarbeit und mit Fortbildungen.
Aufgrund der eigenen Betroffenheit gründete ich im Landkreis die ersten unabhängigen Selbsthilfegruppen für Diabetiker Typ 1 und 2 und in meinem Wohnort selbst eine Gruppe für Kinder ab 2 Jahren mit Diabtetes mellitus, die von ihnen ohne die Mütter besucht wurden.
Ich hatte für mich nach unpraktisch großen Geräten ein geniales Blutzuckermeßgerät gefunden, einen unauffälligen, praktischen Pen-Sensor. Er sah aus wie ein Kugelschreiber, war absolut zuverlässig und ich habe ihn bis 2002 benutzt, die Batterie war leider nicht austauschbar. Bis heute war dieses Messgerät für mich persönlich die innovativste Entwicklung zur Erleichterung meiner individuellen Diabetestherapie überhaupt.
1982 wurde bei mir eine Allergie gegen synthetisches Humaninsulin diagnostiziert. Ich habe von Anfang an bis heute ausschließlich tierisches Insulin verwendet, das ich, nach dem Rückzug der tierischen Insuline in Deutschland, aus England beziehe. Ich verwende Ampullen mit Einmalspritzen.
Veröffentlicht: 2018