Mein Name ist Tim Wessel. Ich kam am 31. Mai 1969 in Kiel zur Welt. Im Sommer 1975, kurz vor der Einschulung, bekam ich Typ 1 Diabetes mellitus.
Die Erstdiagnose war etwas holprig, da die Sommerferien-Vertretung unseres Hausarztes nach einem kurzen Blick auf mich mit den Worten „Der Junge hat keinen Diabetes, das sehe ich“ die Verdachtsdiagnose meiner Mutter abtat. Da sich meine Mutter ob meines Zustandes und den absolut eindeutigen Symptomen mit dieser „Diagnose“ nicht zufrieden gab, gab sie eine Urinprobe bei der Sprechstundenhilfe ab mit der Behauptung, eine Analyse auf Diabetes sei mit dem Arzt abgesprochen. Das war zwar nicht der Fall, aber der Anruf eben dieses Arztes, als das Ergebnis in der Praxis vorlag, dass wir sofort in die Klinik nach Kiel fahren sollten, ich sei ganz offenbar doch Diabetiker, zeigt, dass der Blick auf die Nasenspitze nicht ausreicht, um über das Leben eines Menschen zu entscheiden.
Zunächst wurde ich mit Schweine-Insulin behandelt (ich hab das mal als versaute Therapie bezeichnet, kam nicht gut an). Als Human-Insulin aufkam, stieg ich darauf um. Ab ca. 1982 erhielt ich meinen ersten Novo-Pen.
1988 erhielt ich in Freiburg meine erste Insulinpumpe, die H-Tron von Disetronic. 2016 wechselte ich auf die Insulinpumpe von Medtronic, um das damit kombinierte CGM nutzen zu können. Dies habe ich seit ein paar Jahren mit der Insulinpumpe 780G von Medtronic erfolgreich als closed loop System laufen. Schwere Hypoglykämien, die in meinen dollsten Zeiten täglich auftraten, kommen mittlerweile nahezu nicht mehr vor.
Von ca. 1978/79 bis etwa 1995 hatte ich täglich Hypoglykämien (zumeist in der Nacht, aber auch tagsüber, Highlight war ein Tag mit drei Notarzteinsätzen) , weshalb ich bis etwa 1998 einen Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 100% und den Merkmalen G, aG, B und H hatte. Mittlerweile wurde mein Schwerbehindertenausweis auf einen GdB von 60 eingestuft, ohne Merkmale.
Wegen der gravierenden Schwierigkeiten meiner Behandlung in der Klinik in Kiel (bei Dr. Liese) wurde ich 1981 in das Diabetikerkinderheim „Witthoh“ in der Nähe des Bodensees überstellt. Der dort tätige Arzt und Freund (Prof. Dr. Gerhard Winkler) sagte mir nach seiner Emeritierung, dass ich der einzige von etwa 1500 Patienten gewesen sei, den er nie in den Griff bekommen habe. Da war er allerdings auch nicht der letzte in der Reihe, auch an der Uniklinik Freiburg sowie in verschiedenen Diabetes-Zentren hat es niemand geschafft, meinen Diabetes in den Griff zu bekommen. Auch heute sind viele dieser Phänomene relevant, allerdings sind mittlerweile die Therapie-Möglichkeiten so gut entwickelt, dass die lebensgefährlichen Momente auf ein Minimum reduziert werden konnten. Jedoch wirft mittlerweile die Aufzeichnung der Zuckerverläufe regelmäßig die Frage auf, was um alles in der Welt die Entwicklung meiner Zuckerkurven bedingt.
Wegen der Ansammlung von verschiedenen diabetischen Phänomenen (brittle-Diabetes, dawn-phänomen, hypoglycemia unawareness syndrome,…) gibt es sehr viele Anekdoten, was so alles passieren kann. Diese Schwierigkeiten, einen regelmäßigen Tagesablauf zu erreichen, haben meinen Lebensweg bedingt. Bereits in der Schule zeichnete sich ab, dass Überleben in meiner Situation alles ist. Das war quasi die Pflicht, alles andere wie Schulnoten oder gar Berufswahl war die Kür. Zum Abschluss der Schule im Jahr 1988 stand die zu dem Zeitpunkt noch übliche Musterung an. Hierbei wurde meine Tauglichkeit für den Wehrdienst mit der “Note” T5 (untauglich, selbst zum Kartoffel schälen oder Bleistiftspitzen nicht zu gebrauchen) bedacht, weshalb ich um Wehrdienst ebenso wie Zivildienst herum kam. Die darauf folgende Berufswahl war für mich ebenfalls eingeschränkt. So schieden nahezu alle Handwerker-Berufe aus. Alles, was mit Maschinen zu tun hat, sich auf dem Dach abspielt oder einen Führerschein erfordert, war keine Option. Auch Berufe, die mit Menschen zu tun haben oder gar Waffenhandhabung beinhalten (Polizist, Jurist, Lehrer) waren raus. Außerdem sollte ein Beruf auch die Interessenslage desjenigen treffen, der ihn ausübt. Mein Wunsch, Medizin zu studieren, um Diabetes in seinen molekularen Mechanismen besser zu ergründen und neue Behandlungsmethoden anzugehen, wurde mir verwehrt mit den Worten: “Herr Wessel, wenn sie immer einen Arzt nebendran stehen haben müssen, weil sie alle Nase lang umkippen, dann taugen Sie nicht dazu, Patienten zu behandeln”. Das war aber eigentlich auch garnicht mein Ziel, sondern ich wollte in die Forschung. So kam die Idee auf, Biologie zu studieren, was mir den Zugang zur Forschung ermöglichen sollte.
Nach dem Studienbeginn in Freiburg dauerte es einige Semester mit mehreren Wiederholungen von Vordiploms-Prüfungen, die wiederholt wegen Unterzuckerungen versägt wurden, bis ich mein Diplom erhielt. Um in der Forschung bestehen zu können, führte an einer Promotion quasi kein Weg vorbei. Daher machte ich meine Doktorarbeit in Freiburg und schloss 2003 erfolgreich ab. Zu dem Zeitpunkt hatte ich allerdings erkannt, dass das akademische Umfeld für mich und meine berufliche Zukunft nicht die passenden Voraussetzungen bietet. Durch einen fremdverschuldeten Fahrradunfall ohne Diabeteseinwirkung gegen Ende der Promotion, bei dem ich mir einen Lendenwirbel brach und seitdem nicht mehr Vollzeit im Labor arbeiten kann, war auch eine Karriere in der industriellen Forschung keine Option mehr.
Da ich im Nebenjob während des Studiums im (dem Institut für Biologie benachbarten) Handelshof über längere Zeit sehr viele Tätigkeiten (Leergutannahme, Getränkemarkt, Kasse, Warenannahme) ausgeübt hatte, hatte ich entdeckt, dass mir die Betreuung von Kunden liegt. Auch hatte ich wahr genommen, dass die Qualität meiner Arbeit dort die auch in dem Umfeld regelmäßig auftretenden Unterzuckerungen mit Fremdhilfe (durch Marktchef, Kollegen und Kunden) hinnehmbar erscheinen ließ. Daher nahm ich nach erfolgreicher Promotion einen Job als Außendienstmitarbeiter für einen Anbieter in der Biotechnologischen Forschung an. Wegen meiner Problematik mit Unterzuckerungen hatte ich auch erst ein Jahr vor Ende der Promotion, als die Stoffwechsellage dies zuließ, meinen Führerschein gemacht.
Nach meinem Berufsstart im März 2003 als Account Manager entwickelte ich mich beruflich weiter. Seit 2012 arbeite ich (immer noch bei derselben Firma) als Produktspezialist für Zellbiologie mit dem Schwerpunkt Zell- und Gentherapie und betreue Forscher in Norddeutschland und Israel. Im Zuge meiner beruflichen Tätigkeit mit sehr viel Reiseaktivität bin ich in engem Kontakt mit Forschern rund um Diabetes-Therapie, deren Konzept auf ß-Zellen basieren, welche aus Stammzellen abgeleitet werden. Hier ist sehr viel Dynamik in den Projekten und als betroffener Patient bin ich mit führenden Wissenschaftlern im Gespräch- auf wissenschaftlicher Ebene ebenso wie in Diskussionen, wie sich manche Fragen aus Sicht eines Patienten darstellen.
Seit 2021 fahre ich jährlich im Sommer Fahrradtouren durch Deutschland. Diese laufen als Spendenaktion (für die “Tafel e.V.” und “Samuel Koch und Freunde e.V.”) und haben bisher Längen von 1200, 1600 bzw. 800 km umfasst (jeweils auf ca. 14 Tage verteilt, etwa 100 km pro Tag, mit Zelt, Schlafsack und sonstigem Klumbum im Gepäck). Die Tour 2023 fiel wegen Covid-Infektion aus, die für 2025 geplante Tour vom Ursprung zur Mündung der Elbe (ca. 1250 km) musste ich wegen des Todes meiner Mutter vor ein paar Wochen auf das nächste Jahr verschieben.
Seit 2001 bin ich verheiratet mit Tamara, die mich und meinen Diabetes erträgt. Wir haben drei Kinder (24, 22 und 14 Jahre), eine Katze und einen Hund.
Ich bin Gemeinderatsmitglied in Bad Bellingen, stv. Schwerbehindertenbeauftragter meiner Firma und als ehrenamtlicher Gutachter für das BMBF tätig. Und wenn ich noch Zeit übrig habe, so Drechsel ich gerne.
In (fast) allem, was ich tue, gebe ich 120%, weil mir von Anfang an vermittelt wurde, die „Macke“ ausgleichen zu müssen.
Lebensmotto: Never give up.
Veröffentlicht: 2025




