Ich wurde im November 1960 geboren. Ich war ein gesundes freundliches Kind, es gab keine Anzeichen für irgendwelche gesundheitlichen Komplikationen. Ich hatte in der Schule keine Schwierigkeiten, lernte schnell und mühelos. In der zweiten Klasse berieten die Lehrer mit meinen Eltern, ob es sinnvoll für mich wäre, eine Schulklasse zu überspringen, da ich völlig unterfordert war. Schon am nächsten Tag saß ich in einer anderen Klasse und ich hatte zukünftig nie das Gefühl, schulischen Stoff verpasst zu haben.
Im Sommer 1973 – das Jahr, in dem mein kleiner Bruder geboren wurde – stellte ich starke Veränderungen in meinem Körper fest. Andere Mädchen erlebten in dieser Zeit eine hormonelle Umstellung mit Einsetzen der Menstruation. Mein Körper ging andere Wege, ich baute körperlich völlig ab, magerte bis zu 35 kg ab, hatte keine Energie mehr. Ich hatte ständig Durst, trank große Mengen Wasser, die ich sofort wieder zur Toilette brachte. Ich konnte keine Unterrichtsstunde mehr ohne Trinken durchhalten, die Zunge klebte am Gaumen. Besonders der Sportunterricht war für mich unerträglich.
In dieser Zeit war es noch nicht üblich, gesundheitliche Beschwerden im Internet zu recherchieren. Meine Mutter setzte sich mit unserem zuständigen Landarzt in Verbindung und ich sollte mich am Morgen im Labor unserer Kurklinik melden. Hier arbeitete die Mutter meiner besten Freundin, die mir Blut abnahm und um eine Urinprobe bat. „Du hast dich sehr verändert. Ich hoffe, dass du nicht an Diabetes erkrankt bist.“ Ich war gerade wieder im Unterricht angekommen, da stand meine Mutter weinend im Klassenraum. Unverzüglich musste ich meine Sachen packen, mein Vater wurde von der Arbeit gerufen und er brachte mich sofort ins Krankenhaus nach Wittenberge.
Ich hatte Diabetes Typ 1, hatte aber keine Ahnung, was jetzt auf mich zukommen würde. Es war der 29. November 1973, ich wurde täglich mehrmals gespritzt, Blutzuckerkontrollen fanden stündlich statt und ich hatte immer noch die Hoffnung, in 4 Wochen zum Weihnachtsfest gesund zu Hause zu sein.
Meine Hoffnung zerbrach, als die Schwester mich bat, das Spritzen selbst zu übernehmen. Ich war entsetzt, als ich erfuhr, dass ich bis zum Ende meines Lebens auf Insulin angewiesen war, das mein Körper nicht mehr selbst herstellte.
Es war eine große Umstellung für mich. In meinem Zimmer standen auf dem Regal Petrischalen, Gläser mit Spritzen, Kanülen und Pinzetten. Ich war gut geschult und arbeitete täglich meine Pflichten ab. In der Schule wurde ich wie ein Pflegefall behandelt. Jeder Lehrer hatte Angst, hilflos zu sein, wenn es mir mal nicht gut gehen würde. Zu jeder Klassenfahrt oder anderen Veranstaltungen waren die Lehrer erfreut, wenn meine Mutter sich anbot, die Klasse und mich zu begleiten.
Es begann eine schwierige Zeit. Nicht nur für mich, die ganze Familie war betroffen. In meinem Zimmer standen Petrischalen, Pinzetten, Alkohol, Tupfer, Aufziehkanülen, Spritzen und die etwas feineren Kanülen zum Spritzen. Von fein konnte keine Rede sein, ich spritzte fünf mal täglich und bald waren meine Schenkel völlig zerstochen.
Ich war mit 13 Jahren noch ein Kind und für mich war Schokolade, Süßigkeiten oder Eis essen vorbei, so etwas gab es damals noch nicht ohne Zucker, jedenfalls nicht in der DDR. Ich musste auf vieles verzichten, musste mein Essen abwiegen und hatte trotz allem keine Ahnung, in welcher Höhe sich mein Blutzucker gerade befand.
Die Möglichkeit der Kontrolle gab es erst viel später.
Im Jahr 1973 war es üblich, einmal monatlich im Labor morgens einen Blutzuckertest zu machen, ein paar Stunden später fand die Auswertung in der Diabetesberatung statt.
Jeder Diabetiker weiß, dass schon innerhalb von Minuten der Blutzucker nach oben oder unten ausschlagen kann. Es machte also keinen großen Sinn, Kontrollen einmal monatlich durchzuführen.
Zwei Jahre später, es war vor dem Weihnachtsfest 1975, fühlte ich mich nicht gut. Ich hatte Durst, Erbrechen, keinen Appetit und körperliche Schwäche. Diese Symptome deuten auf einen hohen Blutzucker hin. Ich lag nur apathisch im Bett. Nachdem der Doktor nach mir gesehen hatte, fragte ich, wann denn der Arzt endlich kommen würde. Da wurden meine Eltern panisch, mein Gedächtnis schien ausgeschaltet und der Arzt erschien sofort noch einmal und überwies mich ins Krankenhaus. Ich war inzwischen ohne Bewusstsein und bekam nicht mit, dass der Krankenwagen mit Sirene unterwegs war.
Ich lag einige Tage auf der Intensivstation und bekam vom Leben nicht viel mit. Eine Krankenschwester war eine ehemalige Schulfreundin meines Bruders und sie ließ meine Mutter für ein paar Minuten an mein Bett, was mir sehr gut tat. Ich war ja immer noch ein Kind. Und meine Mutter hatte für diese wenigen Minuten eine 30-minütige Zufahrt auf sich genommen.
In dieser Zeit ging es auch um meine berufliche Zukunft. Ich hatte Wünsche, Träume und Ziele, aber ich hörte überall nur die Aussage. „Das wirst du mit deinem Diabetes nicht schaffen.“ Irgendwann glaubte ich selbst, nichts mehr bewältigen zu können.
Dann begann meine Ausbildung, die im Harz, weit von meinem Heimatort entfernt, stattfand. Der Beruf Bürokauffrau entsprach nicht meinen Wünschen, aber die Ausbildung fand in einem Reha-Zentrum statt. Hier waren mehr Betreuer angestellt, die sich um die behinderten Jugendlichen kümmerten. Ich war also inzwischen eine „Schwerbehinderte“ – meine Mutter hatte sich um diese Anerkennung gekümmert. So hatte ich in meinem späteren Leben steuerliche Vorteile und es sollte mir später auch zur Anerkennung des Rentenstatus vorteilhaft sein.
Auch in meiner Ausbildung fühlte ich mich oft unterfordert. Später im Beruf dachte ich oft, Stenografie und Schreibmaschine schreiben hätte ich auch nebenbei in der Abendschule lernen können. Diese Jahre hatten aber für meine Entwicklung eine ganz andere Bedeutung. Ich lernte Menschen kennen, die durch körperliche oder geistige Behinderung am Rande der Gesellschaft standen. Ich konnte erleben, wie sie trotzdem mit Spaß am Leben teilnahmen und ich wurde mir bewusst, dass ein Mensch niemals auf Rollstuhl oder spastische Lähmungen reduziert werden darf. Ich sah immer nur den MENSCHEN und das tue ich heute noch.
Ich erhielt ein sehr gutes Facharbeiterzeugnis und begann im Krankenhaus zunächst als medizinische Sachbearbeiterin der Oberschwester zu arbeiten und dann wechselte ich in die Lohnabrechnung und absolvierte in der Abendschule die Ausbildung zur Finanzbearbeiterin. Die Arbeit mit Zahlen machte mir Spaß, trotzdem wusste ich immer, dass mir, gerade mit Diabetes, eine Tätigkeit mit mehr Bewegung sehr viel besser getan hätte.
In meiner Zeit der Ausbildung im Harz hatte ich meinen Freund kennen gelernt. Nach dem Berufsabschluss gab es zunächst keinen Kontakt mehr, da wir beide noch zu jung waren, um eine feste Beziehung einzugehen. Ich nahm aber wieder den Kontakt auf und wir trafen uns auch wieder. Jetzt sprachen wir auch schon davon, in Kürze heiraten zu wollen.
Mit meiner Arbeit war ich soweit zufrieden und das Privatleben war also auch wieder mit Freude erfüllt. Die Situation mit meinem Diabetes hatte aber immer noch den Stand, dass keine Blutzuckermessungen möglich waren, die ich zu Hause selbständig durchführen konnte. Das wäre für eine gute Kontrolle und für die optimale Einstellung dringend nötig gewesen.
Zu dieser Zeit hatte ich immer einen großen Traum! Ich stellte mir vor (und wünschte es sehr!), ich hätte irgendwo am Körper eine Stelle, auf der ich den aktuellen Blutzucker ablesen könnte.
Es sollte noch etwas dauern, bis dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde, davon wusste zu dieser Zeit noch niemand etwas. Aber die Forschung war nicht faul.
Wir heirateten 1983 und hatten natürlich auch den Wunsch nach einem Kind. Aber auch hier ging es nicht nach Wunsch. Der Diabetes hatte sich in meinem Körper ausgebreitet, als eigentlich andere Veränderungen im Körper eines Mädchens stattfinden sollten. Die hormonelle Umstellung fand allerdings bei mir überhaupt nicht statt. Der Diabetes hatte beschlossen, das Wichtigste in meinem Körper zu sein.
Dass ich 1988 dann doch endlich schwanger wurde, grenzte an ein medizinisches Wunder. Ich war überglücklich und wusste von Anfang an, dass ich alle Schwierigkeiten und Belastungen auf mich nehmen würde, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Im April erfuhr ich von der Schwangerschaft, verbrachte fast die ganze Zeit in der Uniklinik in Halle und war am 2. November 1988 mit meiner gesunden, inzwischen drei Wochen alten Tochter wieder zu Hause. Bekannte zweifelten, ob ich mit dieser ungewohnten Belastung umgehen könnte und ob ich mich trotzdem genug um meinen Diabetes kümmern würde. Es war so eine schöne Zeit mit unserem lieben Baby und ich kann mich nicht an Schwierigkeiten oder Belastungen erinnern.
Als unsere Tochter den ersten Geburtstag feierte, kam das Ende der DDR und die große Wende in allen Lebensbereichen. Alles wirkte nur positiv. Wir fuhren „in den Westen“ zum Einkaufen, unsere Tochter trug „Westwindeln“, wir besuchten für eine Woche Verwandte in Düsseldorf und konnten diesen Unterschied gar nicht begreifen. Trotzdem hatten wir nicht den Wunsch, unsere Heimat zu verlassen.
Auch bei der Behandlung des Diabetes gab es bald viele Neuerungen. Wir hatten jetzt mit Teststreifen die Möglichkeit, den Blutzucker selbst zu Hause zu testen. Aus Kostengründen nur etwa vier bis fünf mal am Tag, aber es war eine große Verbesserung. Ich wollte mit meiner Tochter nicht sofort wieder ins Berufsleben einsteigen, diese tolle Zeit wollte ich noch ein wenig genießen. Nach zwei Jahren wollte meine Tochter aber mit Kindern zusammen sein und gemeinsam spielen. Neben unserem Wohnhaus war ein Kindergarten und sie stand immer am Zaun und beobachtete die Kinder.
Ich traf in der Stadt eine ehemalige Kollegin, deren Tochter dringend eine Finanzbearbeiterin suchte und plötzlich ging alles ganz schnell. Ich bekam schnell einen Krippenplatz und einen Arbeitsvertrag und ein ganz neues Leben nahm seinen Anfang.
Für mich war das wieder eine sehr große Umstellung.
Der Wecker klingelte sehr früh, um 6.00 Uhr mussten wir vor der Kinderkrippe stehen, mein Arbeitstag ging bis 16:30 Uhr und ich war abends wirklich sehr erschöpft. Aber die Arbeit und auch die Beschäftigung mit unserer Tochter machten Spaß, die Hausarbeit war dabei nicht ganz so wichtig. Beruflich und familiär hatten wir ein gutes Leben, auch mit dem Diabetes kam ich gut klar.
Im Jahr 2000 gab es noch einmal eine Änderung für unser Leben. Wir zogen in den Harz. Diese wunderbare Gegend, wo unser gemeinsames Leben begann, wurde jetzt unser neues Umfeld und wir haben es bis heute nicht bereut.
Inzwischen gehörte ich zu den Diabetikern mit hohem Dienstalter. Die Blutzuckerwerte schwankten stark und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dreimal musste mein Mann den Notarzt rufen, da ich die Unterzuckerungen nachts nicht wahrnahm. Mit einer Glukosespritze und der Aussage „bekannte Diabetikerin!“ blieb ich im Bett, bis sich die Werte normalisiert hatten. Ich bekam dann eine Notfallspritze verschrieben, die mir mein Mann selbst setzen konnte, wenn ich nicht mehr ansprechbar war. Auch das war für uns wieder eine große Verbesserung.
Aber es sollte noch besser werden. Mein allergrößter Wunsch und Traum ging in Erfüllung. Der kleine Sensor von der Firma Abbott mit einem kleinen Lesegerät ermöglichten es mir, rund um die Uhr meinen Blutzucker zu überwachen. Eigentlich war es der Gewebezucker, der hier angezeigt wurde, das war aber nur ein geringfügiger Unterschied. Ich hatte jetzt die Möglichkeit der vollständigen Kontrolle. Der Nachteil dabei: ich sah jetzt ganz deutlich, dass die Werte eine wilde Berg- und Talfahrt vollführten. Ich bekam diese Schwankungen nicht in den Griff und erhielt vom Arzt die Aussage „Ihr Diabetes ist schwer erziehbar“. Inzwischen hielt sich der Diabetes seit 40 Jahren in meinem Körper auf und ich konnte mit dieser schlechten Einstellung die gefürchteten Spätfolgen nicht verhindern.
Inzwischen hatten wir auch Enkelkinder und ich wollte natürlich noch lange deren Entwicklung verfolgen. Ich wollte noch länger fit bleiben und nicht zum Pflegefall werden. Ich traf eine Entscheidung, die mir sehr weiter half und mein Diabetesmanagement auf ein höheres Level stellte. Ich wechselte meinen Diabetologen! Ein jüngerer Arzt, der sich für Neuerungen interessierte und diese auch an seine Patienten weitergab. Ich hatte mich schon seit längerem mit dem Thema „Insulinpumpe“ beschäftigt, hatte sie auch bei einem Bekannten gesehen. Ich war aber nicht bereit, die Pumpe, den Schlauch und die Kanüle am Körper zu tragen. Den Sensor am Arm habe ich nie als Fremdkörper angesehen, aber bei dieser Vorstellung wusste ich, dass ich diese Geräte immer als störend empfinden würde. Inzwischen gab es eine schlauchlose Insulinpumpe, die die Blutzuckerwerte vom Sensor empfängt und so die nötige Insulinabgabe errechnet. Ich war davon begeistert und gab sofort mein Interesse bekannt. Es dauerte nur ein paar Monate bis ich einen Termin im Krankenhaus bekam, bei dem ich für eine Woche die Schulung für den Umgang mit der Pumpe und auch das Anbringen erlernen sollte.
Es war für mich sehr aufregend. Wir waren eine Gruppe von sechs Diabetikern, die gemeinschaftlich trainieren sollten. Ich war die einzige Frau, ich war die Älteste und auch die Dienstälteste, was den Diabetes betraf. Beim Austausch mit zwei Jugendlichen, die sich meine Anfänge gar nicht mehr vorstellen konnten, wurde mir erst bewusst, welche Fortschritte die Forschung gemacht hatte. Es waren 52 Jahre seit Beginn meiner Krankheit vergangen und ich war für die Änderungen und Verbesserungen sehr dankbar. Es gab mal eine Zeit, in der die Diagnose Diabetes einem Todesurteil gleich kam. Das hatte ich zum Glück nicht mehr erlebt und für jede Verbesserung durfte ich sehr dankbar sein.
Mit der Pumpe komme ich sehr gut zurecht. Den Sensor wechsele ich nach zehn Tagen, die Pumpe muss ich nach drei Tagen austauschen. Für mich und sicher auch für alle anderen Diabetiker kein Problem. Schwierigkeiten und viele Stunden Gespräche mit dem Kundendienst hatte ich mit der Automatisierung, das heißt, die Blutzuckerwerte mit der Abgabe von Insulin zu optimieren. Zwei verschiedene Systeme von verschiedenen Herstellern zu kombinieren war nicht so einfach. Nach langem Hin und Her lief alles optimal und nicht nur ich, sondern auch die Dame vom Kundendienst war sehr froh.
Jetzt hoffe ich, dass die Pumpe mir noch ein paar angenehme Jahre mit meinem Diabetes ermöglicht. Ich werde auf jeden Fall mein Bestes dafür tun!
Veröffentlicht: 2025




